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Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman

Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman

Titel: Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Baraldi
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unnatürlich verdreht. Sie wirken unentschlossen, in welche Richtung sie gehen sollen, der eine zeigt nach links, der andere nach rechts. Mit weit aufgerissenen Augen verfolge ich die vom Laken verdeckten Umrisse, bis ich den Arm erreiche, der darunter hervorsieht. Eine blutleere Hand. Irgendetwas stimmt nicht an diesem Bild. Unmöglich. Etwas, das ich nicht fassen kann. Ein Detail fällt mir ins Auge, der Ring am Finger. Das ist eindeutig Edoardos Ring mit der vergoldeten Balzana. Ein paar Meter weiter liegt eine geblümte Fliege verwaist auf dem glänzenden Marmorboden. In der Schlichtheit dieses fortgeschleuderten Gegenstandes erkenne ich die ganze Brutalität des Todes.
    Es ist, als würde sich etwas von mir lösen.
    Vielleicht hat sich ja meine Seele entschlossen, meinen Körper zu verlassen, um fortzufliegen, weit weg von diesem unerträglichen Anblick. Ich höre meine Schreie, als gehörten sie nicht zu mir. Ich schreie seinen Namen, den Namen meines guten Freundes, meines Vertrauten: »Edoardo!«
    Ich sehe, wie ich von zwei Beamten hochgehoben und weggebracht werde, während ich um mich trete, kratze und weine. Ich möchte zu dem weißen Laken, möchte es fortziehen und feststellen, dass alles bloß ein Scherz war.
    Ein Mann im weißen Kittel kommt zu mir. »Ganz ruhig, ich bringe dich von hier fort.«
    Ich möchte nicht weggehen, ich möchte nur, dass Edoardo wieder aufwacht.
    Und dann schreie ich noch eine Weile, bis ich schließlich völlig erschöpft bin. Meine Lider sind schwer. Meine Seele, die über der Szene schwebt, sieht, wie ein blondes Mädchen unter Weinkrämpfen ohnmächtig wird. Und dieses Mädchen bin ich.
    Dunkelheit.

37
    I ch öffne die Augen. Gedämpftes Licht. Umrisse von Gegenständen, die mir vertraut sind. Ein Schreibtisch, ein schmaler Spiegel und ein Schaukelstuhl voller Plüschtiere.
    Die Erinnerungen kehren unvermittelt wieder. Wie ein Stromschlag durchfahren mich zweihundert Volt Schmerz.
    »Edoardo«, flüstere ich, und ich sehe die Szene noch einmal wie in Zeitlupe vor mir. Das weiße Laken, das den verkrümmt daliegenden Körper meines Freundes bedeckt. Die geblümte Fliege, ein lebloser Gegenstand nur wenige Schritte entfernt. Kein gemeinsames Lachen mehr, kein zufällig aufgeschlagenes Buch, um mir ein Zitat zu schenken, kein Edoardo mehr. Nie mehr. Eine Träne löst sich leise von meinen Wimpern. Sie bahnt sich ihren Weg in einen Fluss der Schmerzen, der mich mit sich fortreißt. Lautlos weine ich in mich hinein.
    Eine Stimme im Gang. Ich erkenne meine Mutter. Sie spricht zwar leise ins Telefon, aber ich kann sie trotzdem hören.
    »Manchmal denke ich, dass sie noch ein kleines Kind ist. Mach dir keine Sorgen, Evelyn, wir sind doch da. Das geht vorüber.« Sie redet mit meiner Großmutter. Wie gern wäre ich jetzt in ihrem Haus voller Erinnerungen mitten im Herzen von East End! Ich vermisse sie und ihre ganzen Nippesfiguren im Esszimmer, die Anekdoten von ihren drei Ehemännern und den Fünf-Uhr-Tee, den kleinen Markt in der Petticoat Lane und das Museum von Whitechapel.
    Am liebsten würde ich jetzt eine Gutenachtgeschichte von ihr hören, und nach dem Aufwachen würde alles von Neuem beginnen.
    Da bin ich wieder, ich beeile mich. Ich habe mein Turnzeug vergessen, und deshalb beschließe ich, in die Bibliothek zu gehen, um dort Biologie zu lernen. Edoardo ist da. Er liest in der Göttlichen Komödie und lächelt mir zu.
    Meine Lider sind schwer, der Nebel wird dichter. Ich kann gerade noch einen Blick auf den Wecker werfen. Es ist fünf Uhr nachmittags. Für einen kurzen Moment spüre ich den angenehmen Geschmack von Bergamotte-Tee auf der Zunge. Ich schließe die Augen und lasse mich wieder von der Dunkelheit umfangen.
    Mir kommt es vor, als schwebte ich durch ein Vakuum. Fühlt es sich so an, wenn man stirbt? Treibt man durch eine dunkle Flüssigkeit und kann die Augen nicht mehr öffnen? Oder ist es eher so, dass man die Augen sperrangelweit aufreißt und trotzdem nichts erkennen kann? Edoardo, bist du da? Ich suche ihn, aber ich finde nichts außer dieser dichten, endlosen Finsternis. Mir ist kalt.
    »Scarlett …«
    Eine Stimme. Dunkel und verführerisch.
    Mikaels Stimme.
    »Wo bist du?«, frage ich. »Ich habe Angst.«
    »Ich bin bei dir. Hab keine Angst. Ich lasse dich nicht allein.«
    »Alle lassen mich allein. Zuerst die Freunde aus Cremona, dann meine neuen Mitschülerinnen, Genziana, Caterina, Laura … Sie wollen nichts mehr von mir wissen. Und jetzt

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