Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
sich zwischen den Autos hindurchschlängelt und dabei keine Anstalten macht, langsamer zu werden.
Ich weine lautlos.
Die Straße, so grau wie meine Augen, nimmt meine Tränen auf.
Dann gewinnt mein Zorn die Oberhand. »Das Mädchen von den Sternen würde auf ein ganzes Leben verzichten, nur um ihn zu umarmen!«, schreie ich. »Das Mädchen von den Sternen will keine Angst mehr haben, es will leben. Und Leben heißt Lieben«, flüstere ich dann.
Ofelias Armreif glitzert an meinem Handgelenk.
Mikael sagt nichts, aber allmählich durchdringt mich ein Gefühl der Wärme. Ich treibe durch ein gedämpftes Universum, im Hintergrund ertönt Girl from the Stars , und mein Bild schwebt zwischen den Sternen. Mikael gestattet mir noch einmal einen Blick in sein Herz. Er kann zwar mit Worten versuchen, mich von sich zu entfernen, aber seine Seele lügt nicht.
Girl from the Stars, take me away from all this darkness , Mädchen von den Sternen, bring mich weg aus all dieser Dunkelheit. Seine Stimme klingt melodisch und tief. Noch nie hat mir jemand etwas so Schönes gewidmet, ich hätte so gern, dass es auch auf der Bühne von ihm gesungen wird.
Und einen Moment lang sind wir auf der menschenleeren Straße eins.
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H allo?« Marcos helle Kinderstimme. »Scarlett, es ist für dich!« Er bringt mir das schnurlose Telefon. »Dein Freund ist dran«, meint er und streckt mir die Zunge raus.
Ich versuche, ihn zu kneifen, aber er entgleitet mir flink wie ein Goldfisch.
»Ja?«
»Leg nicht gleich auf. Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen.« Umberto klingt aufgeregt.
»Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt …«
»Ich habe Beweise, dass Mikael ein Geheimnis verbirgt. Seine Eltern sind nicht bei einem Flugzeugunglück umgekommen. Er hat alle angelogen.«
Ich bin sprachlos. Das glaube ich nicht. Mikael hätte mich in einer so wichtigen Angelegenheit niemals belogen.
»Wir sehen uns in einer halben Stunde im Infierno .«
Ich muss einfach wissen, was er herausgefunden hat. »Okay«, mehr bringe ich nicht heraus.
Ich habe eine schlimme Vorahnung. Sobald ich aufgelegt habe, stürmt Angst auf mich ein wie eine Schar von dunklen Gewitterwolken. Aber ich werde mich meiner Angst stellen. Und Umberto. Ich werde mich mit ihm treffen, und zwar in genau dem Klub, der eine Wende in meinem Leben eingeleitet hat.
Ich werde ihm nicht erlauben, sich zwischen mich und denjenigen zu stellen, den ich liebe.
Mikael hat mich so oft verteidigt, heute werde ich ihn beschützen. Vielleicht sind seine Geheimnisse in Gefahr. Vielleicht geht es um Wahrheiten, die so bestürzend sind, dass sie das Gleichgewicht der ganzen Welt erschüttern könnten. Seit jener Nacht habe ich jedes Mal, wenn ich nach unten auf den Boden schaue, Angst, dass eine Krallenhand aus dem Erdreich schießen könnte, um mich zu packen.
Ich sollte mich besser beeilen, wenn ich nicht zu spät kommen möchte.
Mama ist in der Küche damit beschäftigt, den Vorratsschrank zu putzen. Sie versucht, ihre Zeit bestmöglich auszufüllen, jeden Tag denkt sie sich etwas Neues aus, nur um etwas zu tun zu haben.
»Ciao, Ma, ich geh noch mal weg. Ich muss zu einer Freundin, mir die Unterlagen für den Philosophiekurs zurückholen.«
»Um diese Uhrzeit?«
»Ja … Bis vor Kurzem war er noch in meiner Klasse. Ich hatte ihm einige Fotokopien geborgt, und die brauche ich jetzt unbedingt.«
»Hast du nicht gerade gesagt, du gehst zu einer Freundin?« Ausgerechnet jetzt, wo ich es eilig habe, muss Simona mich ins Gebet nehmen.
»Das stimmt. Er hat die Unterlagen zu meiner Freundin gebracht, weil er weiß, dass ich nicht gern zu Jungs nach Hause gehe.«
»Da muss ich dir allerdings recht geben. Zieh dich warm an, draußen ist es kalt.«
»Das reicht schon so, das Sweatshirt ist gefüttert.«
»Kommt nicht infrage. Sonst wirst du wieder krank wie beim letzten Mal.«
»Ach, Ma!« Nicht mal die großen Hundeaugen funktionieren.
»Wenn du noch mal rauswillst, dann geh und zieh dir was an!«
Widerspruch ist zwecklos. Ich ziehe den grauen zweireihigen Mantel an, der mir bis zu den Knien reicht, und laufe noch mal schnell nach oben. Ich leere meine Schublade aus und schmeiße alles in der Gegend herum. Schal, Handschuhe und Mütze. Jetzt bin ich sogar für den sibirischen Winter gerüstet.
Ich wusste es. Es ist spät geworden. Und dann habe ich auch noch die Kette vergessen, um mein Fahrrad abzuschließen.
Umberto sitzt etwas abseits in einer Ecke des Klubs, vor ihm auf dem
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