Scarpetta Factor
gemieden werden muss, sei es nun als Adresse, als Postfachnummer, als Autokennzeichen oder als Tageszeit.«
»Tageszeit?«, wiederholte Bonnell. Marino konnte nicht feststellen, ob sie amüsiert war, denn er hatte Schwierigkeiten, ihr Verhalten zu deuten. »Sechsundsechzig Minuten nach sechs gibt es nicht.«
»Dafür aber sechs Minuten nach sechs am sechsten Tag eines Monats.«
»Warum lässt sie Sie nicht umziehen? In diesem Gebäude gibt es doch sicher noch mehr Büros.« Bonnell holte einen USB-Stick heraus und warf ihn Marino zu.
»Ist da alles drauf?« Marino stöpselte ihn in seinen Computer ein. »Wohnung, Fundort und Audio-Datei?«
»Es fehlen nur die Fotos, die Sie heute dort gemacht haben.«
»Die muss ich noch von meiner Kamera runterladen. So wichtig sind sie nicht. Wahrscheinlich ist nichts drauf, was Sie nicht selbst gesehen haben, als Sie mit der Spurensicherung in der Wohnung waren. Berger sagt, ich säße eben im sechsten Stock und mein Büro sei nun mal das sechsundsechzigste auf diesem Flur. Ich habe geantwortet, schön und gut, doch was ist mit der Offenbarung des Johannes?«
»Berger ist Jüdin«, erwiderte Bonnell. »Sie kennt die Offenbarung des Johannes nicht.«
»Das ist, als würde man behaupten, dass gestern nichts passiert ist, wenn sie die Zeitung nicht gelesen hat.«
»Das kann man nicht vergleichen. Was in der Offenbarung des Johannes steht, ist nämlich nie eingetreten.«
»Es wird aber irgendwann eintreten.«
»Wenn man sich einredet, dass etwas geschehen wird, ist das Wahrsagerei, Wunschdenken oder eine Phobie«, entgegnete Bonnell. »Alles, nur keine Tatsache.«
Auf dem Schreibtisch läutete das Telefon.
Er griff nach dem Hörer. »Marino.«
»Ich bin es, Jaime. Ich glaube, wir haben jetzt alle beisammen«, hallte Jaime Bergers Stimme in seinem Ohr.
»Wir haben gerade über dich geredet«, antwortete Marino. Dabei betrachtete er Bonnell. Es fiel ihm schwer, sie anzusehen, vielleicht deshalb, weil sie für eine Frau ungewöhnlich groß und in jeglicher Hinsicht gut ausgestattet war.
»Kay? Benton? Seid ihr noch da?«, erkundigte sich Berger. »Sind wir.« Benton klang, als sei er ganz weit weg.
»Ich schalte euch auf Freisprechanlage«, sagte Marino. »Detective Bonnell von der Mordkommission ist bei mir.« Er drückte auf einen Knopf an seinem Telefon und legte auf. »Wo ist Lucy?«
»Im Hangar, um den Hubschrauber startklar zu machen. Hoffentlich können wir in ein paar Stunden aufbrechen«, erwiderte Berger. »Es hat endlich aufgehört zu schneien. Wenn ihr alle eure Mailbox aufruft, müsstet ihr zwei Dateien finden, die sie euch geschickt hat, bevor sie zum Flugplatz gefahren ist. Auf Marinos Rat hin haben wir die Analysten im Real Time Crime Center gebeten, sich in den Server einzuloggen, der die Kamera vor Toni Dariens Wohnung betreibt. Sicherlich wisst ihr alle, dass die New Yorker Polizei mit einigen großen Anbietern von Überwachungskameras eine Abmachung getroffen hat, sodass wir Zugang zu den Aufnahmen haben, ohne uns bei einem Systemadministrator das Passwort besorgen zu müssen. Zufälligerweise wird das Haus, in dem Toni gewohnt hat, von einem dieser Anbieter versorgt. Deshalb konnte sich das Real Time Crime Center Zugriff zum Video-Server verschaffen und einige der fraglichen Aufnahmen sichten, und zwar mit Schwerpunkt auf der letzten Woche. Außerdem haben sie die Bilder mit Fotos von Toni aus der jüngsten Zeit, einschließlich dem in ihrem Führerschein und in Facebook und MySpace, verglichen. Erstaunlich, was da alles im Umlauf ist. Wir wollen mit der Datei namens Aufnahme eins beginnen. Ich habe sie mir bereits angeschaut. Ebenso wie die zweite Datei. Was ich gesehen habe, bestätigt die Informationen, die vor einigen Stunden eingingen und die wir später noch ausführlicher erörtern werden. Ihr müsstet eigentlich in der Lage sein, das Video herunterzuladen und zu öffnen. Also tut es.«
»Fertig«, meldete Benton. Er klang nicht sehr freundlich, doch das war seit einiger Zeit immer so.
Marino fand die E-Mail, die Berger gemeint hatte, und öffnete sie. Währenddessen stand Bonnell von ihrem Stuhl auf und kauerte sich neben ihn, um sich das Video anzusehen. Es lief ohne Ton und zeigte nur Bilder des Straßenverkehrs vor dem Backsteingebäude in der Second Avenue, wo Toni Darien gewohnt hatte. Im Hintergrund bemerkte man Autos, Taxis und Busse und Passanten in wetterfester Winterkleidung, manche mit Schirm, die offenbar nicht ahnten, dass
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