Scarpetta Factor
stammen soll – in diesem Fall Toni Darien. Um eine SMS zu versenden, ist kein Passwort nötig. Ein Blick auf die verschickten und eingegangenen Nachrichten, und derjenige erhält eine Vorstellung davon, was er schreiben und wie er sich ausdrücken soll, um den Eindruck zu erwecken, dass die SMS von Toni ist. Er könnte die Absicht verfolgt haben, anderen vorzugaukeln, dass Toni letzte Nacht noch gelebt hat, obwohl sie längst tot war.«
»Meiner Erfahrung nach werden Morde normalerweise nicht so kompliziert geplant, wie du es hier schilderst«, widersprach Berger.
Marino traute seinen Ohren nicht. Die Staatsanwältin hatte Scarpetta mehr oder weniger deutlich an den Kopf geworfen, dass sie hier nicht in einem Kriminalroman von Agatha Christie waren.
»Für gewöhnlich kommt dieser Einwand von mir«, entgegnete Scarpetta, die offenbar weder beleidigt noch verärgert war. »Allerdings fällt der Mord an Toni Darien aus der Rolle.«
»Wir werden versuchen herauszufinden, woher die SMS kam, das heißt, von welchem Ort sie verschickt wurde«, meinte Marino. »Mehr können wir nicht tun. Meiner Ansicht nach ist das gerechtfertigt, denn schließlich ist ihr Telefon verschwunden. Was, wenn jemand es gestohlen und die SMS an Tonis Mutter geschickt hat? Möglicherweise ist es weit hergeholt, aber woher wollen wir das wissen?« Er wünschte, er könnte die Worte »weit hergeholt« zurücknehmen, denn es klang, als wollte er Scarpetta kritisieren oder zweifelte an ihrer Theorie.
»Während ich mir dieses Video anschaue, stellt sich mir auch die Frage, warum wir so sicher sind, dass es sich bei der Person im grünen Mantel um Toni Darien handelt?«, ließ sich Benton vernehmen. »Ich kann auf keinem der beiden Videos ihr Gesicht erkennen.«
»Man sieht nur, dass es eine Weiße ist.« Marino spulte das Video zurück. »Ihr Kiefer und ein Stück ihres Kinns lugen unter der Kapuze hervor. Aber es ist dunkel, und sie blickt nicht in die Kamera. Sie wurde nur von hinten aufgenommen und senkt im Gehen sowohl beim Betreten als auch beim Verlassen des Gebäudes den Kopf.«
»Könntet ihr Lucys zweite Mail mit dem Titel Aufnahme zwei öffnen?«, sagte Berger. »Die Datei enthält einige Standaufnahmen aus früheren Mitschnitten, die vor einigen Tagen gefilmt wurden. Derselbe Mantel, dieselbe Figur, allerdings ein gestochen scharfes Bild von Tonis Gesicht.«
Marino schloss die erste Datei und öffnete die zweite. Er klickte die Diaserie an und betrachtete die Standaufnahmen, die zeigten, wie Toni das Haus betrat und wieder herauskam. Auf jedem Bild hatte sie den hellroten Schal und denselben grünen Parka mit pelzbesetzter Kapuze an. Nur dass es diesmal nicht regnete, weshalb sie die Kapuze nicht aufgesetzt hatte. Das dunkelbraune Haar fiel ihr locker über die Schultern. Auf einigen Fotos war sie mit einer Jogginghose, auf anderen mit einer Stoffhose oder Jeans bekleidet. Einmal trug sie olivgrüne Fäustlinge, aber niemals schwarze Handschuhe. Sie hatte auch nie eine große schwarze Schultertasche bei sich. Jedes Mal war sie zu Fuß unterwegs. Nur einmal, als es regnete, hatte die Kamera aufgezeichnet, wie sie in ein Taxi stieg.
»Das bestätigt die Aussage ihres Nachbarn«, meinte Bonnell und streifte Marinos Arm. Es war jetzt schon das dritte Mal, eine hauchzarte Berührung zwar, aber sehr deutlich wahrzunehmen. »Diesen Mantel hat er mir beschrieben«, fuhr sie fort. »Er sagte, sie habe einen grünen Mantel mit Kapuze getragen und ihre Post in der Hand gehabt, die sie vermutlich gleich nach dem Betreten des Gebäudes um siebzehn Uhr siebenundvierzig aus dem Briefkasten geholt hatte. Wahrscheinlich hat sie den Briefkasten aufgeschlossen, den Inhalt herausgenommen und ist dann die Treppe hinaufgestiegen, wo sie ihrem Nachbarn begegnete. Sie ist in ihre Wohnung gegangen und hat die Post auf die Küchenanrichte gelegt, wo ich sie heute Morgen gefunden habe, als ich mit der Spurensicherung dort war. Die Briefe waren ungeöffnet.«
»Sie hatte im Haus die Kapuze hochgeschlagen?«, hakte Scarpetta nach.
»Der Nachbar war nicht sicher. Er sprach nur von einem grünen Mantel mit Kapuze.«
»Graham Tourette«, ergänzte Marino. »Wir müssen ihn überprüfen, ebenso wie den Hausmeister, Joe Barstow. Sie sind beide nicht vorbestraft. Nur ein paar Verstöße im Straßenverkehr – Vorfahrt missachtet, den Wagen nicht umgemeldet, defektes Rücklicht. Alles schon Jahre her, und es hat niemals zu einer Verhaftung geführt. Ich habe
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