Scarpetta Factor
habe er in seiner Wohnung verbracht, sich eine Pizza liefern lassen und ferngesehen, weil das Wetter so miserabel und er todmüde gewesen sei.«
»Der wirft mit Alibis ja nur so um sich«, stellte Berger fest.
»Ein naheliegender Schluss, aber in Fällen wie diesem nicht ungewöhnlich. Alle befürchten, dass man sie verdächtigen könnte. Eine andere Erklärung wäre, dass die Zeugen Geheimnisse haben, von denen wir nichts erfahren sollen«, entgegnete Bonnell und blätterte Seiten um. »Er schilderte Toni als freundlich und als Mieterin, die sich nur selten beschwerte. Seiner Einschätzung nach war sie keine Partygängerin und hatte nur selten Besuch, auch nicht – und ich zitiere wieder – von Typen. Mir fiel auf, dass er ziemlich aufgebracht und verängstigt war. Außerdem arbeitet er derzeit offenbar nicht als Taxifahrer«, fügte sie hinzu, als ob diese Einzelheit wichtig gewesen wäre.
»Das können wir nicht mit Sicherheit sagen«, erwiderte Berger. »Wir wissen nicht, ob er Zugriff auf ein Taxi hat und ob er vielleicht schwarzarbeitet und Steuern hinterzieht wie so viele Aushilfsfahrer in der Stadt, insbesondere in diesen Zeiten.«
»Der rote Schal ähnelt dem, den ich von Tonis Hals entfernt habe«, warf Scarpetta ein. Marino stellte sich vor, dass sie irgendwo neben Benton saß und auf einen Computerbildschirm starrte, vermutlich in ihrer Wohnung am Central Park West, nicht weit entfernt von CNN. »Er ist einfarbig rot und besteht aus einem Hightech-Stoff, der zwar sehr dünn, aber warm ist.«
»So einen trägt sie offenbar«, antwortete Berger. »Diese Videoaufnahmen und die SMS an ihre Mutter scheinen zu bestätigen, dass sie gestern noch lebte, als sie um eine Minute nach sieben das Haus verließ. Und dass sie eine Stunde später, gegen acht, noch nicht ermordet worden war. Doch du bist, was ihren Todeszeitpunkt betrifft, anderer Ansicht, Kay, und findest die Videoaufzeichnungen widersprüchlich.«
»Meiner Auffassung nach war sie gestern Nacht bereits tot.« Scarpettas Stimme klang so ruhig, als stellte sie eine Selbstverständlichkeit fest.
»Und was haben wir dann gerade gesehen?«, fragte Benton mürrisch. »Eine Schauspielerin? Eine Frau, die ihren Mantel getragen und das Haus betreten hat? Jemanden mit einem Schlüssel?«
»Kay, um eines klarzustellen: Bist du, nachdem du die Videos kennst, noch immer dieser Meinung?«, hakte Berger nach.
»Meine Meinung gründet sich auf die Untersuchung ihrer Leiche, nicht auf Videoaufnahmen«, entgegnete Scarpetta. »Die körperlichen Veränderungen nach dem Tod, insbesondere Totenflecken und Leichenstarre, weisen darauf hin, dass der Todeszeitpunkt viel weiter zurückliegt als bis gestern Nacht. Es könnte am Dienstag geschehen sein.«
»Am Dienstag?«, wunderte sich Marino. »Soll das heißen, vorgestern?«
»Ich denke, dass ihr die Kopfverletzung am Dienstag, möglicherweise nachmittags, zugefügt wurde, und zwar einige Stunden nachdem sie Hühnersalat gegessen hatte«, erklärte Scarpetta. »Ihr Mageninhalt war nur teilweise verdaut: Römersalat, Tomaten und Hühnerfleisch. Durch den Schlag auf den Kopf wurde der Verdauungsprozess angehalten, weshalb die Nahrung unverdaut blieb, während sie starb, was vermutlich eine Weile gedauert hat. Vielleicht eine Stunde oder länger, abhängig von der Reaktion ihres Körpers auf die Verletzung.«
»Sie hatte Salat und Tomaten im Kühlschrank«, ergänzte Marino. »Also hat sie ihre letzte Mahlzeit möglicherweise zu Hause zu sich genommen. Bist du sicher, dass das nicht auch gestern Abend gewesen sein kann? Schließlich war sie eine Stunde lang in ihrer Wohnung, also innerhalb des Zeitraums, den wir auf dem Video gesehen haben.«
»Klingt plausibel«, sagte Bonnell. »Sie hat etwas gegessen, und einige Stunden später, so gegen neun oder zehn Uhr, war sie unterwegs und wurde überfallen.«
»Das klingt überhaupt nicht plausibel. Als ich sie untersucht habe, wies alles darauf hin, dass sie gestern weder in der Nacht noch tagsüber am Leben war«, widersprach Scarpetta ruhig.
Sie verhielt sich fast nie aufbrausend, schlug einen scharfen Ton an oder gebärdete sich besserwisserisch. Nach all den Jahren – dem Großteil seiner beruflichen Laufbahn –, die Marino nun schon in verschiedenen Städten mit ihr zusammengearbeitet hatte, war er zu der Überzeugung gelangt, dass es den Tatsachen entsprach, wenn eine Leiche ihr etwas mitteilte. Diesmal jedoch fiel es ihm schwer, ihrer Auffassung zu folgen. Es
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