Scarpetta Factor
ich finde es unfair. Schließlich habe ich ihr nichts getan.«
Anscheinend ahnte Carley wirklich nicht, dass es keine weiteren Sendungen mehr geben würde, zumindest nicht mit ihr als Moderatorin. Vielleicht versuchte sie auch, Scarpetta Informationen zu entlocken, weil sie den Verdacht hatte, dass sich bei CNN hinter den Kulissen etwas tat. Es machte Scarpetta zu schaffen, dass sie und Alex beim Verlassen der Maske Carley auf dem Flur angetroffen hatten, und zwar keinen Meter entfernt von der Tür. Sie hatte getan, als wäre sie gerade im Begriff aufzubrechen, und schlug vor, Scarpetta könne sie ja begleiten, was sehr seltsam war, denn Carley wohnte nicht in der Nähe, sondern in Stamford, Connecticut. Deshalb ging sie nicht zu Fuß oder nahm den Zug oder ein Taxi, sondern benutzte den Fahrdienst des Senders.
»Nachdem sie letztes Jahr in American Morning war. Haben Sie die Sendung gesehen?« Carley umrundete schmutzige Eispfützen. »Thema war ein Fall von Tierquälerei, in dem sie die Anklage gegen eine Zoohandelskette vertreten hat. CNN wollte ihr einen Gefallen tun und hat sie eingeladen, um darüber zu reden. Doch sie ist sauer geworden, weil man ihr heikle Fragen gestellt hat. Und wer darf es wieder einmal ausbaden? Ich. Wenn Sie sie bitten würden, würde sie sicher kommen. Ich wette, Sie haben so gute Beziehungen, dass Sie jeden überzeugen könnten.«
»Warum halten wir kein Taxi für Sie an?«, schlug Scarpetta vor. »Sie machen einen Umweg, und mich stört es nicht, allein zu Fuß zu gehen. Ich habe es nicht mehr weit.«
Scarpetta hätte gern Benton angerufen, um ihm zu sagen, warum sie so lange brauchte, damit er sich keine Sorgen machte. Aber sie hatte ihr BlackBerry nicht bei sich. Vermutlich hatte sie es zu Hause vergessen, wohl am Waschbeckenrand im Badezimmer. Sie hatte sich schon überlegt, ob sie sich Carleys Telefon ausleihen sollte, doch dann hätte die Journalistin ihre Geheimnummer im Speicher gehabt. Und wenn Scarpetta nach dem heutigen Abend eines wusste, dann war es, dass man Carley nicht über den Weg trauen konnte.
»Ein Glück, dass Lucy ihr Vermögen nicht bei Madoff investiert hatte, was nicht heißt, dass er der einzige Betrüger ist«, sagte Carley.
Unter ihnen ratterte eine U-Bahn vorbei. Heiße Luft stieg aus einem Schacht auf. Scarpetta hatte nicht vor, den Köder zu schlucken, den Carley gerade auswarf.
»Ich habe meine Aktien nicht abgestoßen, als ich hätte verkaufen sollen, sondern so lange gewartet, bis der Dow Jones unter achttausend gefallen war«, fuhr Carley fort. »Und dabei besuche ich häufig dieselben Veranstaltungen wie Suze Orman. Ich hätte sie um Rat fragen sollen. Wie viel hat Lucy verloren?«
Als ob Scarpetta ihr das verraten würde, selbst wenn sie es gewusst hätte.
»Mir ist klar, dass sie mit Computern und Investitionen ein Vermögen verdient hat und immer unter den ersten hundert auf der Forbes -Liste war. Allerdings jetzt nicht mehr«, sprach Carley weiter. »War sie nicht vor kurzem noch Milliardärin, und zwar wegen ihrer Hochgeschwindigkeitstechnologien und all der anderen Software, die sie entwickelt hat, als sie praktisch noch in den Windeln lag? Außerdem hatte sie offenbar gute Berater. Zumindest früher.«
»Ich interessiere mich nicht für die Forbes -Liste«, entgegnete Scarpetta. Außerdem kannte sie die Antwort nicht. Lucy war in finanziellen Dingen schon immer verschwiegen gewesen, und Scarpetta wollte nicht neugierig sein. »Ich möchte nicht über meine Familie sprechen«, fügte sie hinzu.
»Anscheinend gibt es eine Menge Dinge, über die Sie nicht sprechen wollen.«
»Hier wären wir.« Sie hatten das Haus erreicht, in dem Scarpetta wohnte. »Passen Sie auf sich auf, Carley. Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr.«
»Geschäft ist Geschäft, richtig? Und da ist alles erlaubt. Vergessen Sie nicht, dass wir Freundinnen sind.« Carley umarmte sie. Das hatte sie bis jetzt noch nie getan.
Scarpetta trat in die mit poliertem Marmor ausgestattete Vorhalle, wühlte ihren Schlüssel aus der Manteltasche und versuchte, sich zu erinnern, wo sie ihr BlackBerry zuletzt gesehen hatte. Da es ihr einfach nicht einfallen wollte, ließ sie den ganzen Abend Revue passieren. Hatte sie das Telefon benutzt, vielleicht bei CNN, und es dann irgendwo liegenlassen? Nein, da war sie ganz sicher.
»Sie waren spitze im Fernsehen.« Der Pförtner, ein junger Mann, der erst seit kurzem hier arbeitete und in seiner ordentlichen blauen Uniform sehr
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