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Scatterheart

Scatterheart

Titel: Scatterheart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lili Wilkinson
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    »Molly?«, rief sie. Keine Antwort. Hannah kraxelte den Hang hinauf und brach durch das letzte Hindernis aus Ästen und Zweigen.
    Molly war bis zum Rand eines Abhangs getreten. Ein breiter, brausender Fluss schoss auf die Kante des rötlichgelben Felsens zu, auf dem sie stand, und stürzte, einen weißen Gischtvorhang versprühend, darüber hinab. Hinterdem Wasserfall erhoben sich Berge. Unendlich viele Berge. Vor ihnen, über ihnen, neben ihnen, überall waren Berge. Berge, über denen ein stumpfes Blaugrün waberte, aus dem nur dann und wann eine raue Felswand oder eine gelbe Felsspitze aufragte. Molly stand mit offenem Mund da. Ohne sich umzudrehen, streckte sie ihre Hand nach Hannah aus. Die ergriff sie und drückte sie fest.
    »Es geht ewig so weiter«, flüsterte Molly.
    Und genauso war es. So weit das Auge reichte, wellten sich Bergkämme, Gipfel und Täler vor ihnen und verschwanden in dem blauen Dunst, der über allem lag.
    Hannah hätte sich niemals vorstellen können, dass die Welt so groß war. Selbst nach der langen Reise auf der
Derby Ram
konnte sie es nicht fassen, dass solche Entfernungen existierten. Sie klafften über und unter ihr und erfüllten sie mit einer tiefen Leere.
    Die Spätnachmittagssonne tauchte die Berge in ein gelbes Licht und warf dramatische blaue Schatten. Als Hannah ins Tal blickte, drehte sich ihr der Magen um. Tief unter ihr vereinigte sich der Fluss wieder mit der Erde und wand sich in einer geschwungenen, tief eingeschnittenen Linie zwischen zwei hoch aufragenden Gipfeln davon.
    Die Leere, die Hannah empfand, drohte sie zu verschlingen. Sie hätte weinen mögen, aber sie konnte nicht. Wie sollten sie in dieser unermesslichen Weite eine einzelne Person ausfindig machen?
    »Wir werden ihn niemals finden«, flüsterte sie. »Niemals.« Molly sah sie an und lächelte, dann wandte sie sich wieder um und saugte die Schönheit der Landschaft in sich auf.
    »Wir sind doch schon da«, sagte sie. »Das ist es. Wir haben es gefunden. Hier ist das Land östlich der Sonne und westlich des Mondes.«
    Und vielleicht hatte sie recht. Hannah gestand sich ein, dass sie sich geirrt hatte, als sie Port Jackson dafür gehalten hatte. Der Ort war malerisch, aber nicht so paradiesisch wie dieses Gebirge. Port Jackson war zahm im Vergleich zu den Bergen.
    »Dieser Ort ist schön und schrecklich zugleich … wie …«, sie unterbrach sich und suchte nach den richtigen Worten.
    »Wie der weiße Bär«, murmelte Molly.
    Hannah nickte.
    Sie setzten sich auf den Felshang neben dem Wasserfall und sahen zu, wie die Sonne unterging und die Berge und Täler ringsum im blauen Dunst verschwanden. Die letzten Strahlen der Sonne verwandelten die Gischt des Wasserfalls in eine Wolke aus tausend Regenbögen.
    Hatte Will Appledore einen Scherz gemacht, als er ihnen sagte, sie würden Thomas finden, wenn die Sonne untergegangen sei?
    Molly blickte träumerisch über die Berge. »Es sieht aus wie das Meer. Wie große, gefrorene Wellen.«
    Einen Moment lang sah Hannah ein Schloss, das ganz aus Eis war und dessen weiße Türmchen und Festungswällein den rosa- und orangefarbenen Strahlen der untergehenden Sonne aufblitzten.
    »Molly!«, rief sie atemlos. Aber dann war das Schloss wieder verschwunden. »Ich dachte, mir wäre das Ende des Märchens eingefallen. Ist es aber doch nicht«, sagte sie.
    Sie hörten über sich ein Rascheln und als Hannah den Kopf hob, entdeckte sie einen seltsamen weißen Vogel, der sich auf einem Zweig niedergelassen hatte. Molly schaute ebenfalls hoch und quiekte.
    Der Vogel war sehr groß und ganz weiß, nur sein Schnabel und seine Augen waren schwarz und auf seinem Kopf saß ein hellgelber Helmbusch. Hannah starrte den Vogel mit offenem Mund an.
    »Ein Zaubervogel?«, flüsterte Molly.
    »Ich weiß nicht. Könnte sein«, sagte Hannah.
    Ruckartig bewegte der Vogel seinen Kopf auf und nieder und sein gelber Helmbusch breitete sich zu einem goldenen Fächer aus.
    »Wie wunderschön!«, rief Molly leise.
    Der Vogel blickte sie aus seinen schwarzen Augen an, dann öffnete er den Schnabel und stieß das schrecklichste Geräusch aus, das Hannah je gehört hatte. Es klang schrill und rau zugleich, wie der Schrei eines Sterbenden. Molly hielt sich die Ohren zu.
    »Er hat so schön ausgesehen«, sagte sie entsetzt.
    »Hier ist nichts, wie es scheint«, entgegnete Hannah, ohne ihren Blick von dem Vogel zu lösen. »Die Elster war hässlichund hat herrlich gesungen. Und dieser Vogel sieht

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