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Scatterheart

Scatterheart

Titel: Scatterheart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lili Wilkinson
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noch nie zuvor gewesen war. Statt der vornehmen Gebäude aus Klinker und Sandstein drängten sich Holzhäuser dicht aneinander, als wollten sie sich gegenseitig das Licht stehlen. Die wenigsten Fenster hatten Glasscheiben, die meisten waren mit Lumpen und braunem Papier verstopft. Eine Ratte huschte vor ihr über die Straße. Hannah unterdrückte einen Schrei. Aus dem Nebel taumelte ein Mann und prallte mit ihr zusammen. Sie presste ihren Pompadour fest an die Brust. Der Mann hatte ein rotes Gesicht und einen unsteten Blick. Er trug einen fadenscheinigen braunen Mantel und alte Kniehosen.
    »’tschuldigung, Frollein«, rülpste er und schwankte davon.
    Sie bog um eine Ecke und sah einen Mann, der eine Frau gegen eine Hauswand presste. Die Hosen des Mannes waren heruntergelassen und die Beine der Frau um seine Hüften geschlungen. Hannah lief ein Schauer über den Rücken und sie meinte erbrechen zu müssen. Die Frau bemerkte, dass Hannah sie beobachtete, und sah sie gleichgültig an. Hannah errötete und eilte weiter.
    Ein loser Pflasterstein kippelte unter ihren Füßen und eisiges Schmutzwasser spritzte unter ihren Rock. Sie fing an zu rennen. Ein Hund bellte. Rasch stürzte Hannah um eine Ecke und fand sich in einer Sackgasse wieder. Kleine verfallene Holzhäuser stützten einander ab.
    Im Schnee saß eine Frau. Sie hatte einen schmutzigen Unterrock und ein altmodisches Korsett an. Neben ihr lag eine Flasche, deren Inhalt sich in den Schnee ergossen hatte, es roch bitter. Die Frau sah starr auf den Boden. »Entschuldigen Sie«, sagte Hannah mit bebender Stimme, »ich habe mich anscheinend verlaufen.«
    Die Frau antwortete nicht. Sie regte sich nicht einmal. Hannah beugte sich vor und berührte die Frau an der Wange. Sie war kalt wie der Schnee. Voller Entsetzen drehte sich Hannah um und hastete die Straße hinunter. Sie kam durch Gassen, die voller Müll und Ungeziefer waren, und versuchte verzweifelt einen Orientierungspunkt zu finden.
    Im dichten Nebel konnte sie die Straßenschilder nicht mehr erkennen. Ihr schwindelte vor Hunger und Kälteund sie wusste nicht, wie weit sie schon gelaufen war. Das spärliche Licht war nun ganz verblichen und der Nebel wurde immer undurchdringlicher. Hannah spähte hierhin und dorthin, konnte aber keine Häuser mehr ausfindig machen. Unter ihren Füßen knirschten Farn und gefrorenes Erdreich. Die Panik schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte nicht einmal mehr ihre eigene Hand vor Augen sehen. Wo war sie?
    Ein gedämpfter Schrei drang durch den Nebel. Hannah rannte blindlings weiter. Endlich spürte sie wieder festen Boden unter den Füßen – keine gepflasterte Straße, aber ein befestigter Weg. Sie streckte tastend die Arme aus und berührte etwas Hartes, Raues. Holz. Ein Baum. Sie klammerte sich an ihn und holte Atem. Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie meinte, die Luft müsste davon widerhallen. Hannah vergrub eine Hand in der Manteltasche. Sie spürte Thomas’ Taschentuch und beruhigte sich etwas. Wieder hörte sie den klagenden Schrei, aber diesmal war er weiter entfernt. Erleichtert lehnte sie sich an den Baum.
    Ein Windstoß zerriss für einen Augenblick den Nebel und Hannah schaute sich suchend um. Sie lachte nervös auf. Sie war im Kreis gelaufen. Hinter ihr lag die lange Tyburn Road. Zu ihrer Linken befand sich der Hyde Park und zu ihrer Rechten waren Wiesen und Felder. Dies also war die seltsame Gegend, in die sie geraten war, es waren nur die Felder nördlich der Tyburn Road. Die unheimlichenSchreie, die sie gehört hatte, waren muhende Kühe gewesen. Hannah beruhigte sich etwas und schämte sich ihrer Angst.
    Sie drehte sich um und betrachtete den Baum, an dem sie lehnte. Der Stamm war glatt und gerade. Es war gar kein Baum. Es war ein Galgen.
    Sie musste an Thomas denken, der ihr gesagt hatte:
Auf deinen Vater ist ein Kopfgeld ausgesetzt. Sobald er wiederkommt, wird er gehängt
.
    Sie begann am ganzen Leib zu zittern. Und wenn ihr Vater nie mehr zurückkam? Wenn er sie wirklich verlassen hatte? Bestimmt würde er schreiben oder Geld schicken. Was sollte sie tun? Sie hatte keine Tanten oder Onkel, bei denen sie wohnen konnte. Und sie war sich sicher, dass Mr Harris jetzt nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Ihr Atem kam in kurzen Schluchzern. Sie versuchte vernünftig zu sein und einen Plan zu machen. Aber in ihrem Kopf drehte sich alles in panischer Angst.
    Sie schloss die Augen, dachte an ihr Schlafzimmer mit der Satindecke und dem munteren Feuer. Das war

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