Scatterheart
es, was sie jetzt brauchte. Behaglichkeit. Normalität. Sie wollte sich in ihr Himmelbett kuscheln und die Welt um sich herum vergessen.
Der Pfandleiher konnte bis morgen warten. Sie machte einen unsicheren Schritt vom Galgen weg. Dann noch einen. Und dann ging sie, immer noch zitternd, die Tyburn Road hinunter, bog rechts in die New Bond Street unddann in die Brook Street ein und kam schließlich an die vertraute Abbiegung zu ihrer eigenen Straße. Ein schwer beladenes Fuhrwerk rumpelte an ihr vorüber und bespritzte sie mit eisigem Schneematsch. Aber Hannah achtete nicht darauf. Sie war daheim. Sie rannte die Straße hinunter und blieb an der Treppe zum Hauseingang erschrocken stehen.
Die Tür war offen.
Der Wärter schob die quietschende Zellentür mit einem Ruck auf. Hannah erhob sich rasch und einen Augenblick lang wurde ihr schwindelig. Sie streckte ihre Hände aus und stützte sich an der feuchten Wand ab. Dann las der Wärter zwölf Namen von einer Liste ab. Hannah und zehn weitere Insassen traten vor. Der zwölfte Name war der des verstorbenen Mannes.
Draußen im Gang legte der Wärter den Gefangenen Fußfesseln an, die er mit einer langen Eisenkette verband. Hannah versuchte einen Fuß vorzusetzen und fiel beinahe hin. Die Eisen waren furchtbar schwer, jeder Schritt fühlte sich an, als würde sie durch ein Meer aus Sand waten. Schon nach wenigen Metern taten ihr die Beine weh. Also schlurfte sie mit klirrenden, kleinen Schritten weiter, an Zellen vorbei, aus denen ihr jämmerliche Gestalten mit leeren Augen entgegenstarrten. Dann führte eineSteintreppe steil nach unten. Der Wärter sagte mit Genugtuung, dass dies der Henkersweg sei.
Sie stolperten die Treppe hinab und kamen in einen spärlich beleuchteten, unterirdischen Gang. Nach der stinkenden Luft in der Zelle war der intensive Duft nach feuchter Erde und Stein das Schönste, was Hannah je gerochen zu haben meinte. Sie atmete tief ein und das Zittern ihrer Hände ließ etwas nach.
»Hohes Gericht«, flüsterte sie und rieb den Daumen an Thomas’ Taschentuch, »… habt Erbarmen.«
Dann gelangten sie zu der Treppe, die zum Gerichtshof Old Bailey hinaufführte. Der Wärter bedeutete ihnen stehen zu bleiben, band den ersten Gefangenen los und verschwand mit ihm nach oben.
Die anderen Gefangenen drängten sich in dem Gang zusammen. Hannah kam an dritter Stelle. An der Wand hing ein Leuchter, darunter waren eine Bibel und ein Gebetbuch angekettet.
Hannah ließ die Treppe nicht aus den Augen. Sie wartete auf die Rückkehr des Wärters und übte wieder und wieder ihre Rede.
Sie wollte über ihren Vater sprechen und erzählen, wie sich alles zugetragen hatte. Sie würden verständnisvoll nicken und sie in ein Hotel bringen. Dort würde man ihr eine heiße Suppe und frisches Brot und eine Tasse mit dampfender Schokolade servieren … und sie in ein Himmelbett mit weichen Daunenkissen stecken. Und dannwürde ihr Vater aus Frankreich zurückkommen und alles wäre gut. Thomas würde sie besuchen und sie würden alle Peinlichkeiten und Auseinandersetzungen vergessen …
Hatte Hannah wirklich die Haustür offen gelassen? Das konnte nicht sein.
Kurz flackerte in ihr die Hoffnung auf, ihr Vater sei nach Hause zurückgekehrt. Aber es war nur ein schwacher Hoffnungsschimmer, der in der kalten Abendluft schnell wieder verglühte.
Die Standuhr war fort. Die Hüte auf dem Hutständer waren fort. Der Schirmständer war fort. Der Teppich in der Diele war fort. Und auf den kahlen Dielenbrettern zeichneten sich schmutzige Fußabdrücke ab.
Hannah öffnete die Tür zum Salon. Er war leer. Auch der türkische Teppich, der ihr und Thomas Behr als Vorlage für ihre Geschichten gedient hatte, war verschwunden. Sie rannte zum Speisezimmer. Es war ebenfalls leer. Sie stolperte die Treppe hinauf und fand nur noch knarzende Dielenbretter mit hellen oder staubigen Rechtecken, wo Teppiche gelegen oder Möbel gestanden hatten.
Eine große Müdigkeit überkam sie. Zögernd ging sie in das Zimmer, das vor Kurzem noch ihr Schlafzimmer gewesen war. Sie meinte, das Herz bliebe ihr stehen. Kein Himmelbett. Keine Satindecke. Keine Daunenkissen.Die Kleider fort. Der Schmuck fort. Ihr schwindelte vor Hunger, Furcht und Kälte. Sie besaß nur noch das, was sie am Leib trug, ihre Saphirohrringe, die Topaskette im Pompadour und das Taschentuch von Thomas Behr. Sie sank auf die Holzdielen, wo einst ihr Bett gestanden hatte, legte die Wange auf den staubigen Boden und machte die
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