Scatterheart
Haarpracht.
Doch schließlich hatte sie den Knoten gelöst und versuchte ihre Haare aufzustecken. Aber die Nadeln sprangen ihr immer wieder aus der Hand und ihre spitzen Enden stachen ihr in die Finger. Als sie es endlich geschafft hatte, bluteten ihre Hände, der Kopf tat ihr weh und der Kiefer schmerzte, weil sie die Zähne so fest aufeinanderbiss, um nicht loszuweinen.
Hannah tupfte sich ein Tröpfchen Parfüm hinter die Ohren und streifte sich ihre warmen Handschuhe über.
Zum Schluss legte sie die Saphirohrringe an, die der Vater ihr gekauft hatte, und bewunderte sich im Spiegel. Ihre Frisur war zwar ein wenig schief und auch der Mantel saß nicht perfekt, aber alles in allem sah sie doch wie eine junge Lady aus.
Sie ließ die Halskette in einen rosafarbenen Pompadour gleiten, ein mit grünen Stickereien und Perlen verziertes Satinbeutelchen. Dann nahm sie eine Samthaube vom Hutständer und band sie unter dem Kinn fest. Das Beutelchen klemmte sie sich unter den Arm und steckte in einem plötzlichen Impuls noch das Taschentuch von Thomas Behr in den Mantel. Schließlich verließ sie das Zimmer, lief die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus.
Auf der Vortreppe blieb sie kurz stehen. Es war das erste Mal seit beinahe zwei Monaten, dass sie hinausging – richtig hinaus, nicht nur in den Garten. Dicht und schwer hing der Nebel über der verlassenen Straße, die genauso kalt und leer war wie das Haus hinter ihr. Ihre Wangen und ihre Nase brannten vor Kälte. Sie zog die Tür zu und machte zaghaft einen Schritt nach vorn.
Sie dachte an Scatterheart und den weißen Bären.
Hast du Angst?
, hatte der Bär gefragt.
Hannah tauchte in den Nebel ein.
Zuerst war Scatterheart glücklich. Sie tat, was ihr gefiel, und kleidete sich in feinste Seide und Juwelen. Doch bald fühlte sie sich einsam und traurig. Sie sah den weißen Bären nur beim Abendessen, den übrigen Tag war sie immer allein. Da begann sie zu überlegen, was wohl hinter der kleinen Tür in der Mauer aus Eis läge. Und eines Tages fasste sie Mut und ging hinaus in den Garten.
An ihrem zwölften Tag in der Zelle wachte Hannah schweißgebadet auf. Draußen regnete es heftig und drinnen war es kalt und klamm. Hannahs Strümpfe waren voller Löcher. Ihre Hände zitterten. Heute sollte die Sitzung stattfinden.
»Hohes Gericht«, murmelte sie vor sich hin, »eine Kette von Missgeschicken und widrigen Umständen …«
Sie fuhr sich mit bebenden Fingern durchs Haar und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Ihr Kleid war nicht mehr zartrosa, sondern von einem unbestimmten Graubraun. Sie strich es, so gut es ging, glatt und biss die losenFäden vom Saum ab, wo die Spitze abgerissen war. Die anderen Insassen schauten ihr belustigt dabei zu, machten selbst aber keine Anstalten, sich herauszuputzen. Long Meg hockte mit Black Jack kichernd und flüsternd in einer Ecke, als wäre es ein Tag wie jeder andere.
Hannah wartete auf den Wärter und kratzte geistesabwesend ihre Flohstiche, die rot und entzündet aussahen. Ihr Herz schlug heftig und ihr war ein wenig schwindelig vor Hunger und Durst.
Sie zog Thomas’ Taschentuch unter ihrem Kleid hervor, wo sie es versteckt hatte. Es war schmutzig, aber sie hielt es fest in der Hand.
Hannah folgte den trüben orangefarbenen Lichtkegeln der Gaslaternen, die frei in der Luft zu schweben schienen, denn die Laternenpfähle wurden von der schwefelgelben Dunkelheit verschluckt. Sie bog in die Oxford Street ein.
Die Straßen waren schummrig und beinahe menschenleer. Nur manchmal tauchte plötzlich jemand aus dem Dunst auf – große dunkle Schemen in schwarzen Mänteln. Der Nebel erstickte jedes Geräusch, deshalb hörte Hannah nicht, wenn ihr jemand entgegenkam. Die Gestalten ragten plötzlich vor ihr auf und strichen lautlos an ihr vorüber.
Wie sollte sie einen Pfandleiher finden? Hannah hatte keine Ahnung, wo sie suchen sollte. Sie bog in eine Seitenstraße ein, dann in eine andere und ging, so schnell sie konnte, um sich warm zu halten. Sie kam durch eine enge Straße und befand sich plötzlich auf einem kleinen Platz. In dem grauen Schnee spielten schmutzige Kinder mit Murmeln. Sie kreischten und quiekten wie kleine Ferkel. Ein Junge sah hoch und entdeckte sie.
»Ach, Frollein!«, schrie er. »Bitte einen Schilling! Meine kleine Schwester ist erkältet und meine Mami hat den Tripper.«
Hannah eilte weiter, bis die Schreie der Kinder vom Nebel verschluckt wurden.
Sie befand sich in einem Teil von London, wo sie
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