Scatterheart
Sie diesen Mann dort oben?« James zeigte zum Achterdeck, wo ein Offizier zu den Segeln hinaufblickte.
»Er beobachtet den Wind.«
»Beobachtet den Wind?«
James nickte. »Zu jeder Tages- und Nachtzeit kontrolliert ein Offizier den Wind. Sobald eine Veränderung eintritt, informiert er den Maat. Der Maat informiert den Midshipman und der wiederum den Bootsmann. Der Bootsmann bläst auf seiner Pfeife einen Befehl und die Matrosen trimmen die Segel.«
Hannah beobachtete wieder die Männer, die sich über das ganze Schiff und bis in die höchste Mastspitze verteilten. Sie erinnerten sie an die Hochseilartisten, denen sie einmal mit ihrem Vater in Vauxhall Gardens zugeschaut hatte.
»Und Sie?«, fragte Hannah. »Was genau ist Ihre Aufgabe auf diesem Schiff?«
»Ich bin Leutnant zur See. Oberleutnant, um genau zu sein.«
»Was heißt das?«, fragte Hannah.
»Ich kümmere mich darum, dass die Befehle von Captain Gartside ausgeführt werden. Er sagt mir, was zu tun ist, und ich sorge dafür, dass es geschieht.«
Hannah war beeindruckt. »Dann kommen Sie also gleich nach dem Captain?«
James nickte.
»Werden Sie eines Tages auch Captain? Wie Captain Gartside?«
»Ich werde nie wie Captain Gartside sein.« James rückte seine Manschetten gerade. »Er mag Captain sein, aber ich bin ein Herr. Ich bin nur hier, weil mein Idiot von Vater in seinem Testament angeordnet hat, dass ich erst drei Jahre lang dienen muss, bevor ich mein Erbe antreten kann. Meine Zeit ist in einem Jahr um und danach sieht mich dieser Rostkasten nie wieder. Dann geht es zurück in die Zivilisation.«
»Ihr Vater ist tot? Das tut mir leid.«
»Braucht es nicht«, entgegnete James und sein Blick wurde hart und kalt. »Er war ein Narr. Hatte lauter verrückte Vorstellungen über
Arbeit
und
Lebensunterhalt verdienen
im Kopf. Sein Geld war ihm immer unangenehm.«
»Sie erinnern mich an meinen Vater«, sagte Hannah, obgleich ihre Erinnerung von dem letzten Zusammentreffen ihres Vaters mit Thomas überschattet war.
»Alles in Ordnung?« James betrachtete sie froschend.
»Ich musste nur an meinen Hauslehrer denken. Er hat das auch nicht verstanden. Was das heißt.«
»Was es heißt, eine Person von Stand zu sein?«, fragte James.
Hannah nickte.
»Sie gehören hier wirklich nicht hin, Hannah Cheshire«, sagte James sanft.
»Der Schleimbeutel raspelt Süßholz!«, ertönte eine knarrende Stimme. Es war Tabby, die sich wieder einmal hinter dem Fockmast versteckt hatte. »Lügenbeutel, Schleimbeutel«, schimpfte sie und sah Hannah scharf an. »Es ist nicht alles Gold, was glänzt.«
Plötzlich neigte sich das Schiff und Tabby fiel der Länge nach hin. Ächzend versuchte sie aufzustehen, aber ihre alten Knochen waren zu schwach. Dr. Ullathorne hatte ihren Sturz bemerkt.
James hielt ihr die Hand hin, aber sie wich zurück.
»Von einem falschen Fuffziger lass ich mich nicht anfassen«, murmelte sie.
James schüttelte den Kopf. »Ich möchte Ihnen aufhelfen, Mütterchen.«
Tabby spuckte auf seine Hand. »Lügner, elender. Aus einem faulen Ei wird kein guter Brei.«
James erbleichte. »Etwas mehr Respekt, wenn ich bitten darf.«
Dr. Ullathorne stieg die Treppe zum Vorderdeck hinunter und kam auf sie zu. James ging ihm ein paar Schritte entgegen.
Hannah hörte nicht, was sie miteinander sprachen. Sie half Tabby auf die Füße.
»Was ist denn in dich gefahren?«, fragte sie.
»Auf der Zunge Honig, unter der Zunge Essig«, zischte Tabby.
Der Arzt trat auf sie zu und packte Tabby am Arm. Sie beschimpfte ihn wüst.
»Du widerliches Geschmeiß«, sagte er. »Deine Ration ist für den Rest der Woche gestrichen.«
»Das dürfen Sie nicht«, rief Hannah. »Sie ist alt – sie wird verhungern. Es ist doch schon jetzt kaum genug.«
Dr. Ullathorne blickte sie kalt an. »Das ist die Strafe, wenn man einen Offizier beleidigt.«
»Aber sie hat es nicht so gemeint. Sie ist doch bloß ein bisschen verrückt!«
Dr. Ullathornes Augen verengten sich zu Schlitzen.
»Regeln sind Regeln«, blaffte er und zerrte Tabby fort. Hannah sah zu James hinüber und bemerkte, dass er sie beobachtete. Er nickte ihr knapp zu und ging dann zum Achterdeck, wohin sie ihm nicht folgen konnte.
Scatterheart nahm die Kupfereichel und ging weiter, aber sie bedankte sich nicht bei der Frau aus Sägespänen. Nach langer, langer Zeit kam sie wieder zu einem Felsen. Dort saß eine Frau in mittlerem Alter. Die war ganz aus Glas und in ihrer Hand lag eine Eichel aus Silber.
Weitere Kostenlose Bücher