Scatterheart
an James’ Tür. Nichts. Sie klopfte lauter. Molly zitterte vor Angst. Dann ging die Tür auf.
James sah sie verschlafen an, aber er war vollständig angekleidet. Sein Haar war verstrubbelt und Hannah nahm einen leichten Geruch von Brandy wahr.
»Hannah«, sagte James überrascht, »was …«
»Dr. Ullathorne«, stieß Hannah atemlos hervor. »Und Long Meg. Sie braucht Hilfe.«
James runzelte die Stirn.
»Was meinen Sie? Was ist denn passiert?«
»Er … er hat Molly wehgetan«, antwortete Hannah und zeigte auf die Wunden an Mollys Armen. »Meg hat versucht ihn aufzuhalten. Sie ist noch dort.«
»Sind Sie sicher, dass Ullathorne ihr wehgetan hat?«, fragte James. »Oder wollte er ihr vielleicht helfen und das ist alles nur eine von Megs Lügengeschichten?«
Hannah schüttelte den Kopf.
»Natürlich, ich bin mir ganz sicher«, sagte sie und begann zu weinen. »Ich war doch selber dort. Er hat sie geschnitten …«
Sie schluckte und James nickte.
»Sie bleiben hier«, befahl er. »Wecken Sie niemanden auf. Ich kümmere mich darum.«
Er eilte mit leisen Schritten davon. Hannah schleppte Molly in die Kabine und legte sie in James’ Koje. Sie zog die Kommode auf, nahm ein Leinenhemd heraus und riss einen Streifen davon ab, mit dem sie Mollys Arm verband. Molly zitterte immer noch am ganzen Leib.
»Herr Doktor Fell, ich mag Sie nicht«, flüsterte sie.
»Ich weiß«, sagte Hannah, »es tut mir leid. Leg dich nur hin. James wird alles wieder richten.«
Molly machte die Augen zu. Nach ein paar Minuten hörte das Zittern auf.
Hannah wartete, stundenlang wie ihr schien. Sie konnte nicht still sitzen und musste ständig aufstehen und im Zimmer auf und ab gehen. Sie trat an das Bullauge undspähte hinaus, das dicke Glas beschlug von ihrem Atem. Sterne glimmten am Himmel. Sie suchte den Großen Bären, aber die Sterne wurden von heraufziehenden Wolken verschluckt.
Endlich hörte sie Schritte. Die Tür ging auf und James stand auf der Schwelle.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
Er trat ein und hob das zerrissene Hemd auf.
»Es ist alles erledigt«, entgegnete er. »Bringen Sie das Kind wieder ins Orlopdeck hinunter, bevor jemand etwas merkt. Ist das mein Hemd?«
»Long Meg …«
»Es geht ihr gut«, sagte James. »Sie … sie hat sich nur am Arm verletzt. Morgen ist sie wieder da.«
Er hielt das Hemd hoch und betrachtete missbilligend die abgerissene Stelle, dann seufzte er und wischte sich die Hände an dem weißen Leinen ab. Hannah bemerkte rote Schmutzspuren. James fasste sie an der Schulter und blickte sie an. Vom Schlaf zerzaust sah er noch hübscher aus als sonst.
»Ich würde Sie niemals anlügen.«
Sie schaute in seine blauen Augen und hätte sich am liebsten in sie hineinfallen lassen und Molly, Meg, den Doktor und die
Derby Ram
für eine Weile vergessen. James drückte ihre Schulter und lächelte zärtlich. Er sprach die Wahrheit. Er würde sie niemals anlügen. Hannah nickte und stand auf.
Sie beugte sich über die Koje und hob das schlafende Kind hoch. Molly murmelte etwas, schlang ihre dünnen Ärmchen um Hannahs Hals und legte ihr Wachsgesicht an ihre Schulter. Hannah drehte sich zu James um.
»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte sie.
Leise ging sie durch die Gänge zurück und stieg die Treppe zum Frauentrakt hinunter. Die schlafenden Matrosen in ihren Hängematten rührten sich nicht.
Sie legte Molly auf Long Megs Bett und kroch dann in ihr eigenes. Sie war vor Angst so angespannt, dass es ihr unmöglich erschien, einschlafen zu können. Aber bevor sie sichs versah, sickerte ein dünner Strahl Morgenlicht durch die Luke.
Hannah setzte sich auf und schaute zu Long Megs Koje hinüber. Molly wurde wach und blinzelte verschlafen. Meg war nirgends zu entdecken. Als Molly Hannahs suchenden Blick bemerkte, kletterte sie aus dem Bett und schlüpfte zu ihr unter die Decke.
»Schon gut«, sagte Hannah. »Du bist jetzt in Sicherheit. Er wird dir nichts mehr tun.«
Molly blickte sie fragend an. »Wo ist Long Meg?«
»Ich weiß nicht genau. James hat gesagt, sie hätte sich am Arm verletzt. Vielleicht sehen wir sie beim Frühstück.«
»Ich will zu Long Meg.«
Hannah seufzte. Am liebsten hätte sie Molly jetzt einfach den Rücken zugedreht. Aber sie war ja noch ein Kind. Hannah lächelte sie an.
»Komm, wir gehen nach oben und suchen sie.«
Molly schniefte etwas, doch dann nahm sie Hannahs Hand und gemeinsam gingen sie durch den Gang in Richtung Treppe. Die anderen Frauen lagen immer
Weitere Kostenlose Bücher