Schabernackel
er, „wir sind alle aus dem Kinderheim ,Alpenglück’. Wir sollen uns hier erholen. Sechs Wochen müssen wir hierbleiben, dann fahren wir wieder zu unsern Eltern nach Hause.“ Und ganz leise fügte er hinzu: „Fünfzehn Tage muß ich noch aushalten, dann ist es überstanden.“
„Warum quälen die andern Jungen dich denn immer?“ forschte Schabernackel.
Heinrich sah auf seine dünnen Beine hinunter.
„Weil ich mich nicht wehre“, sagte er. „Ich bin nicht so stark wie sie.“
„Aha“, machte Schabernackel. „Und sonst haben sie keinen Grund? Ärgerst du sie nicht? Machst ihnen was kaputt oder so?“
Heinrich blickte ihn erschrocken an.
„Dazu habe ich viel zuviel Angst!“ rief er.
„Und die Erwachsenen da bei euch im Heim“, fragte Schabernackel weiter, „die Schwestern und der Heimleiter, lassen die es denn zu, daß du so gequält wirst?“
„Die mögen mich auch nicht“, sagte Heinrich. „Ich mache ihnen zuviel Arbeit.“
„Zuviel Arbeit? Wieso?“
Heinrich bekam einen roten Kopf.
„Ich mache jede Nacht ins Bett“, flüsterte er.
Schabernackel sah ihn nachdenklich an.
„Machst du zu Hause auch ins Bett?“
„Nein!“ rief Heinrich. „Nur hier!“
Während dieses Gespräches hatten sie die Alm längst überflogen und schwebten nun über tiefe Schluchten und steile Hänge. Heinrich weinte nicht mehr. Er saß ganz still in dem sanft dahingleitenden Wolkenschiff und blickte mal in den Himmel hinauf und mal auf die Erde hinunter.
„Wunderst du dich gar nicht, daß du mit einer Wolke durch die Luft fliegst?“ fragte Schabernackel.
„Nein“, antwortete Heinrich. „Das träume ich ja alles nur. So etwas gibt es nicht. Wenn ich aufwache, liege ich wieder in meinem Bett, und Schwester Edelgard kommt und schimpft mit mir, weil ich es naß gemacht habe.“
„Paß auf“, rief Schabernackel, „ich will dir zeigen, daß du nicht träumst. Wir fliegen jetzt da oben auf die Bergspitze, da, wo das Kreuz steht. Kannst du es sehen?“
Heinrich nickte.
„Gut“, fuhr Schabernackel fort. „Da steigen wir aus und klettern ein bißchen herum. Und wenn es dort ein Gipfelbuch geben sollte, kannst du dich darin eintragen.“
Es gab ein Gipfelbuch auf der Bergspitze. Unten am Fuße des Kreuzes lag es in einem Blechkasten. Heinrich durchblätterte es staunend und trug dann auf der letzten Seite seinen Namen ein. Erfaßte auch das schwarze Kreuz an und stapfte ein paar Schritte durch den Schnee. Und da merkte er, daß er nicht träumte, sondern alles wirklich erlebte. Nun sah er Schabernackel mit ganz anderen Augen an.
„Bist du ein Zauberer?“ fragte er.
Schabernackel hob die Schultern.
„Ich weiß nicht! Nennt man Leute, die mit einer Wolke durch die Luft fliegen, Zauberer bei euch?“
„Bestimmt!“ rief Heinrich. „Das kann nämlich sonst niemand.“
„Na, dann muß ich wohl einer sein“, sagte Schabernackel. „Aber hör zu, ich kann noch mehr als auf einer Wolke fliegen. Ich kann es fertigbringen, daß dich keiner der Jungen aus dem Kinderheim mehr verhaut und du nie mehr ins Bett machst!“
Heinrich schüttelte ungläubig den Kopf.
„Das kann keiner“, sagte er. „Die lassen die Quälerei nicht sein. Und wenn sie mich quälen, muß ich auch ins Bett machen.“
„Warte es ab“, sagte Schabernackel. „Du wirst der Stärkste werden, und dann geht die Sache umgekehrt, dann laufen sie weg, wenn sie dich sehen.“
Heinrich seufzte.
„Der Stärkste werde ich niemals“, sagte er. „Die sind ja alle größer als ich, die machen mich mit einer Hand fertig.“
„O nein!“ rief Schabernackel. „Wenn du wieder unten bist bei ihnen, machen sie sich selbst fertig, mit einer Hand oder mit beiden, ganz wie sie es wünschen.“
„Wie soll das wohl gehen?“ fragte Heinrich. „So dumm sind die nicht. Die passen schon auf, wohin sie schlagen.“
Schabernackel sagte nichts dazu. Erholte seinen Lumpensack aus der Wolke und schüttete ihn aus.
„Wo ist er?“ murmelte er. „Wo steckt er?“
„Was suchst du denn?“ fragte Heinrich und staunte über die vielen Dinge, die aus dem Sack gefallen waren.
„Einen Rückstrahler“, antwortete Schabernackel und kicherte, „aber einen ganz besonderen. Es ist eigentlich mehr ein Rückschläger.“
Er kramte weiter.
„Gestern hatte ich ihn doch noch in der Hand“, sagte er und drehte und wendete alles, was ihm in die Finger kam. „Ah, da ist er ja!“ rief er plötzlich erfreut. „Und ich fürchtete schon, ich hätte
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