Schach mit einem Vampir
noch im Büro gewesen war und ihn, Ray, sowie die Figur mitgenommen hatte. Nur unter Androhung von Gewalt, mit vorgehaltener Schusswaffe, wäre Ray Phelps dazu bereit gewesen, den Anweisungen des Mörders Folge zu leisten. Ansonsten hätte er versucht, den ungebetenen Gast unschädlich zu machen oder ihm zu entkommen.
Eine andere Lösung für das Verschwinden der Figur gab es nicht, oder? Aber auch diese Variante schien nicht stimmig zu sein. Denn es gab einen Beweis dafür, dass Ray Phelps das Parkdeck alleine betreten hatte: die Überwachungskamera über dem Fahrstuhl. Wieder gerieten Fraizers Gedanken in einen Strudel, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gab. Je mehr er über die verloren gegangene Schachfigur nachdachte, umso weniger kam er zu einem brauchbaren Ergebnis. Diese im Moment unlösbare Frage quälte ihn schon, seitdem er im Büro erwacht war. Er hatte unzählige Varianten durchgespielt, ohne Erfolg. Fraizer kam zu dem Schluss, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen, um nicht durchzudrehen. Er musste sich ablenken und blickte sich deshalb in dem Waggon, in dem er saß, misstrauisch um. Der ganze Zug war gut mit Personen gefüllt. Die Leute standen dicht an dicht. War der Mörder vielleicht unter den Fahrgästen und beobachtete ihn? Jeder hier konnte der Schachspieler sein. Sicher, Kinder und Greise fielen aus dem Raster heraus, aber sonst … Vielleicht befand sich auch die ganze Anhängerschaft der Sekte in dem Zug. Wer vermochte das schon zu sagen? Ein leichtes Unbehagen breitete sich im Magen des Detektivs aus. Nervös kaute er auf seiner Unterlippe. Die stickige, warme Luft im Zug verstärkte sein Unwohlsein zusätzlich. Es roch nach billigemAftershave, Schweiß, Parfum und Essen. Stimmengemurmel erfüllte die Kabine. Irgendwo hatte ein Teenager seinen MP3-Player bis zum Anschlag aufgedreht. Die Musik klang blechern und verschmolz mit dem Geratter des Zuges. Eine Frau mittleren Alters, die an der nächsten Station aussteigen wollte, trat Fraizer mit ihren spitzen Absätzen auf den Fuß. Ein stechender Schmerz ließ ihn kurz zusammenzucken. Ohne sich zu entschuldigen, verschwand die Frau daraufhin in Richtung Ausstieg.
Typisch New York , dachte Fraizer. Keiner kümmert sich um den Nächsten. Das ist der Big Apple, wie er leibt und lebt. Der Zug hielt an einer Station an. Er entließ seine menschliche Fracht und nahm neue Passagiere auf. Kurze Zeit später nahm er wieder Fahrt auf und raste durch die Betonröhren unterhalb Manhattans. Fraizer beobachtete, wie sich die Menschen in dem Zug der ständig wechselnden Umgebung an der Oberfläche der unterschiedlichen Stadtteile anpassten. Fuhr im Herzen Manhattans noch ein buntes Menschengemisch aller Hautfarben aus der gutbürgerlichen Mittelschicht in den Waggons mit, so saßen jetzt zumeist afroamerikanische und spanischstämmige Amerikaner in dem Zug. Doch je näher sich die Bahn Harlem näherte, desto weniger Hellhäutige fuhren mit. Harlem wurde immer noch von Afroamerikanern dominiert. Schließlich bildete Fraizer als Weißer eine absolute Ausnahme in der Bahn der Metropolitan Transportation Authority, kurz MTA. Auffällig war nun auch, dass sich die soziale Schicht veränderte. In Harlem wohnten zumeist die sozial Schwachen. Es gab eine hohe Anzahl von Sozialwohnungen. Auch wenn sich die Situation seit einigen Jahren etwas zugunsten der unteren Schichten gebessert hatte und die Stadtverwaltung wieder mehr Geld in diesen Teil Manhattans investierte, so blieb Harlem doch ein sozialer Brennpunkt.
Außer Fraizer befand sich noch eine Gruppe junger schwarzer Hip-Hopper im vorderen Bereich des Waggons. Sie hatten einen Gettoblaster bei sich, der auf eine ohrenbetäubende Lautstärke eingestellt war. Zu diesen lautstarken Klängen bewegten sich die jungen Leute rhythmisch zumSprechgesang eines Rappers, der seinen Text zungenakrobatisch aus dem Gerät schmetterte. Alle hatten Baseballkappen auf ihren Köpfen, die Schirme waren nach hinten gedreht. Sie trugen schmuddelige Kapuzenjacken und Hosen, deren Gesäßstoff in ihren Kniekehlen baumelte. Runtergekommene Turnschuhe ohne Schuhbänder vollendeten ihr Outfit. Fraizer kannte solche Jungs. Viele von ihnen streunten den ganzen Tag durch die Stadt, gingen selten oder gar nicht zur Schule. Manche nahmen Drogen oder handelten mit ihnen. Andere schlossen sich zu Jugendbanden zusammen und beherrschten auf kriminelle Weise ganze Stadtteile. Der Detektiv wollte die Jungs auf keinen Fall provozieren. Sie
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