Schadensersatz
brauchst keine Albträume seinetwegen zu haben - sein Gesicht hatte keine Schramme.« Sie gab sich nicht damit zufrieden. Wie konnte sein Gesicht heil bleiben, wenn man ihn in den Kopf geschossen hatte? Ich erklärte es ihr auf schonende und sachliche Weise.
»Peter sagte immer, man brauche den Leuten nur ins Gesicht zu sehen, um zu erkennen, ob man ihnen vertrauen könne oder nicht«, meinte sie kurz darauf. »Aber Ihres ist so lädiert, dass ich mir kein Bild machen kann. Sie haben mir jedoch über Peter die Wahrheit gesagt, und Sie reden nicht mit mir, als sei ich ein Baby oder so.« Sie unterbrach sich. Ich wartete ab. Zum Schluss fragte sie: »Hat Paps Sie gebeten, hier herauszukommen?« Nach meiner Antwort wollte sie wissen: »Warum war er so wütend?«
»Nun, er ist der Meinung, dass die Polizei den Mörder deines Bruders verhaftet habe, während ich glaube, sie haben den Falschen erwischt. Das hat ihn in Wut versetzt.«
»Warum?«, fragte sie. »Ich meine, warum glauben Sie, man habe den Falschen erwischt?«
»Die Gründe sind äußerst kompliziert. Nicht, dass ich wüsste, wer es getan hat; aber ich habe deinen Bruder gesehen. Außerdem die Wohnung und verschiedene Leute, die irgendwie mit drinstecken, und sie zeigten entsprechende Reaktionen. Ich bin schon eine ganze Weile in der Branche, ich habe ein gutes Gespür für die Wahrheit. Ein Drogensüchtiger, der so einfach von der Straße weg hereinschneit, passt einfach nicht zu dem, was ich gehört und gesehen habe.«
Sie hatte ihr Gewicht auf einen Fuß verlagert; ihr Gesicht war verzogen, so als fürchte sie, in Tränen auszubrechen. Ich legte den Arm um sie und drückte sie auf die Treppe nieder.
»Es geht schon«, murmelte sie. »Es ist nur - hier ist alles so unheimlich. Peters Tod und so - es ist einfach grauenhaft. Er - er - also ...« Sie unterdrückte einen Schluchzer. »Ach, vergessen Sie's. Paps ist hier der Verrückte. Er war bestimmt schon immer so, aber ich hab's nie bemerkt. Er hat stundenlang herumfantasiert, dass Anita und ihr Vater Pete wegen seines Geldes erschossen hätten, und dann schwenkt er um und sagt wieder, es sei Pete ganz recht geschehen - so als sei er froh, dass er tot ist.« Sie schluckte und wischte mit der Hand über ihre Nase. »Paps hat sich immer so schrecklich aufgeregt, weil Pete angeblich Schande über die Familie bringen würde. Aber wissen Sie, das hätte er nie getan, selbst als Gewerkschaftler nicht. Er wäre bestimmt auch da erfolgreich gewesen. Er hatte Spaß am Tüfteln, das lag auf seiner Linie: Sachen austüfteln und ausprobieren, bis er die beste Lösung gefunden hatte.« Wieder ein unterdrücktes Schluchzen. »Und ich mag Anita. Jetzt werde ich sie vermutlich nie wieder sehen. Ich sollte sie sowieso nicht kennen lernen, doch sie und Pete haben mich gelegentlich zum Essen ausgeführt, wenn Mom und Paps verreist waren.«
»Sie ist verschwunden«, erklärte ich ihr. »Du weißt nicht zufällig, wo sie sein könnte?«
Sie sah mich mit sorgenvollen Augen an. »Glauben Sie, ihr ist etwas passiert?«
»Nein«, sagte ich, mit einer Überzeugung, die nicht echt war. »Ich nehme an, sie hat's mit der Angst zu tun gekriegt und ist davongelaufen.«
»Anita ist einfach sagenhaft«, meinte sie ernst. »Aber Paps und Mutter haben sich strikt geweigert, sie auch nur kennen zu lernen. Zu der Zeit fing Paps an, sich so seltsam zu benehmen, als die Freundschaft zwischen Pete und Anita begann. Selbst heute wollte er der Polizei nicht glauben, dass sie diesen Mann verhaftet haben. Er wiederholte dauernd, Mr. McGraw sei es gewesen. Es war einfach entsetzlich.« Sie verzog unwillkürlich das Gesicht. »Ach, es ist unerträglich hier. Keiner verschwendet einen Gedanken an Pete. Mutter sorgt sich ausschließlich um die Nachbarn. Paps ist total ausgeflippt. Ich bin die Einzige, die sich grämt, weil er tot ist.« Ihr Gesicht war nun von Tränen überströmt, und sie versuchte nicht mehr, dagegen anzukämpfen. »Manchmal habe ich die verrückte Vorstellung, dass Paps wieder völlig durchgedreht ist und Peter selbst erschossen hat.«
Das war wohl ihre schlimmste Befürchtung. Als es heraus war, schluchzte sie hemmungslos und fing an zu zittern. Ich zog meine Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern. Einige Minuten lang drückte ich sie an mich, und ich ließ sie weinen.
Hinter uns ging die Tür auf. Lucy erschien mit missbilligendem Gesicht. »Dein Vater will wissen, wo du steckst - und im Übrigen wünscht er nicht,
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