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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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sie genauso
schrecklich gesungen. Kein Wunder, daß nach drei Tagen
Schluß gewesen war. Konnte das wirklich schon fünfzehn
Jahre her sein?
    In ein paar Tagen würden ihr fünfzehn Jahre wie ein
winziger Bruchteil ihrer Erinnerungen vorkommen, anstatt fast wie
die Hälfte.
    Wie klein war der Bruchteil? Fasziniert ließ Caroline
das blaue Lederkleid fallen, das sie gerade ausgepackt hatte, und
schaltete den Bildschirm ein. Wenn sie sich am Ende
beispielsweise bis 2000 vor Christus zurückerinnerte –
um einfach ein willkürliches Datum zu nehmen –, dann
waren das 4022 Jahre; davon waren fünfzehn Jahre gleich
0,0.037.294 Prozent. Nur siebenunddreißig Zehntausendstel
ihres Lebens würden vergangen sein, seit sie Jeremys
dämliche Texte gesungen, sich von ihm scheiden lassen,
Charles geheiratet und Catherine bekommen hatte und so weiter.
Ein unbedeutender Prozentsatz. Kaum der Rede wert. Die letzten
fünfzehn Jahre würden kaum zählen.
    Caroline starrte die Zahlen auf dem Bildschirm an. Dann
schaltete sie ihn aus, ging zum Fenster hinüber und
riß die Vorhänge auf.
    Strahlend blaues Licht vom Wasser und vom Himmel flutete ins
Zimmer. Der Ontariosee dehnte sich ohne Unterbrechung bis zum
Horizont, ein sanft wogender Spiegel für die Junisonne.
Sonnenschein in Rochester, New York: ein Omen. Im Durchschnitt
waren es nur 103 Tage pro Jahr, erinnerte sie sich. Wo hatte sie
das gelesen? Dies war keine Art, sich an etwas zu erinnern;
solche kleinen, eigentlich nutzlosen Informationen blieben wie
Fusseln an ihr haften. »Dein Hirn ist nun mal so
konstruiert«, hatte ihr Charles mit der melodiösen
Stimme mitgeteilt, mit der er seine Grausamkeiten vom Stapel
ließ. »Entweder fürs Theatralische oder
fürs Triviale.«
    Das stimmte. Aber das hieß nicht, daß sie Charles
etwas verzeihen mußte. Nicht das geringste.
    Ein diskretes Klopfen ertönte. Ohne sich vom Fenster
umzudrehen, rief Caroline: »Herein.« Ein junger,
weiß uniformierter Zimmerkellner mit dem kompletten Namen
des Instituts auf seinem Stirnband kam mit einem dampfenden
Tablett herein. Er stellte einen kleinen Tisch auf und
arrangierte die Speisen mit förmlicher Sorgfalt. Caroline
erkannte die Imitation des japanischen Service, der in den New
Yorker Speiseclubs gegenwärtig populär war. Sie
lächelte ihn amüsiert an. Der Junge verbeugte sich
steif, wobei sein blonder Schopf die orientalischen Nuancen
vermasselte.
    Das Abendessen roch verblüffend gut; Lamm in
Thymiansauce, vermutete sie. Aber sie wußte, daß sie
nichts hinunterbekommen würde. Sie schenkte sich eine Tasse
Kaffee aus der antiken silbernen Kanne ein, die mit einer optisch
kontrollierten Warmhaltevorrichtung ausgestattet war, und kehrte
ans Fenster zurück.
    Ihr Zimmer war im obersten, im vierten Stock. Im Norden fiel
eine grüne, von Walnußbaumkronen und Steinbänken
gesprenkelte Rasenfläche vom Institut zum Ontariosee ab. Die
östliche Grenze wurde von einem Wald gebildet. Im Westen lag
ein Gewirr von Dächern, das durch einen sehr hohen Zaun vom
Institut getrennt war. Und außerdem durch einen
unsichtbaren elektronischen Schirm, vermutete Caroline. Das
Institut war anscheinend eine gut geschützte Enklave.
Plötzlich erinnerte sie sich, daß Rochester den ersten
städtischen Friedhof in den gesamten Vereinigten Staaten
gehabt hatte.
    Sie blieb am Fenster stehen und sah zu, wie zuerst die Sonne
am westlichen Ende des Sees unterging und wie danach der
schieferblaue Abend über dem Horizont dunkelte, bis es an
der Zeit war, ihr glänzendes Namensschild anzulegen und zu
dem Empfang für die Kandidaten der operativen
Erschließung früherer Leben hinunterzugehen.
     
    Im Rosenzimmer des Instituts standen drei Dutzend Leute mit
Gläsern in der Hand. Eine Verandatür führte auf
eine Terrasse mit Seeblick, auf der noch mehr Leute in der
Junidämmerung an einem schmiedeeisernen Geländer
lehnten. Caroline fand, daß der Raum schizophren aussah: an
der Nordwand glatte, schwere Samtvorhänge, die mit
Schnitzereien verzierte Verandatür und die Terrasse; an der
Südwand ein riesiger, hochauflösender Bildschirm mit
einer Konsole von geradezu dreister Nüchternheit, wie ein
Flugzeug-Cockpit. Imitierte Eleganz des neunzehnten Jahrhunderts,
übertrumpft von echter zeitgenössischer Sachlichkeit.
Ihre Laune hob sich im Nu.
    »Eins zu null für den toten Fernseher«, sagte
sie zu dem Barkeeper, der ihr ein Glas Wein gab. Er

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