Schädelrose
dicht
an den Ofen gezogen war; die Talglichter, die bereits gegen das
eisige Grau des späten Novembernachmittags entzündet
waren. Die Küche roch nach Zwiebeln, Talg, Torf und nassem
Hund, und als die Tür aufging und Pere Henri hereinkam und
Schnee von seinen Stiefeln stampfte, kam der warme Gestank des
Kuhstalls mit ihm herein. Sie schnitt schneller, ihr Daumen
tastete nach der tiefen Kerbe, die immer an der linken Seite des
Messergriffs gewesen war…
Das Messer in Pater Shahids Hand hatte keine Kerbe.
Caroline schlug beide Hände vors Gesicht und ließ
sie dann genauso schnell wieder sinken.
»Die Verwirrung dauert nur einen Moment«, sagte
Shahid in seinem höflichen Ton.
»Nein, das ist es nicht. Es ist nur so… Ich kann
es in mir fühlen, es sogar riechen, aber es ist
trotzdem…«
»Eine Erinnerung. Ihre Erinnerung.«
»Ja. Aber das bin nicht wirklich ich… oh, ich bin
es, aber selbst die – ich habe blonde Zöpfe, die
hochgebunden und mit Bändern festgemacht sind, Mutter
flechtet sie mir jeden Morgen. Und ich bin Guillaume de Chatelot
versprochen.« Sie streckte den Arm aus. »Ich bin neun
Jahre alt und verlobt. Aber so drücke ich es vor mir selbst
nicht aus, ich drücke es gar nicht aus. Es ist einfach da.
Wie der Tisch, die Zwiebeln. Eine Erinnerung.«
»Sie haben nicht gedacht, daß es so sein
würde.«
»Meine Erinnerung«, sagte Caroline gequält.
»Meine und doch nicht meine.«
»Wie dachten Sie, daß es sein
würde?«
»Ich dachte, ich würde mich mehr… verbunden
fühlen mit den Erinnerungen. Mit den Leben.«
»Sie dachten, es wäre direkter.«
»Ja!«
»Ich möchte, daß Sie jetzt etwas tun«,
sagte Shahid. »Es ist ganz einfach. Vergessen Sie die junge
Mathilde mal für einen Moment und versuchen Sie sich an
etwas zu erinnern, was Caroline Bohentin passiert ist, als sie
neun Jahre alt war. Etwas Kleines, aber sehr Deutliches, das sich
aus irgendeinem Grund losgelöst hat und mit Ihnen gereist
ist, seit Sie neun waren. Gibt es bei Ihnen einen solchen
Augenblick?«
Caroline überlegte. »Nein… doch.«
»Erzählen Sie mir davon.«
»Colin ist zur Premiere eines neuen Stücks in New
York, und meine Großmutter geht mit mir ein neues Kleid
für mich kaufen. Ich habe meinen Vater noch nie spielen
sehen, meine Großmutter hatte bereits entschieden,
daß er der Teufel in Person war, und ließ mich
nie… jedenfalls sind wir zum alten Bloomingdale’s
auf der East Fifty-Ninth gegangen, und eine Verkäuferin kam
mit einem Kleid für mich herein, das ich anprobieren sollte.
Ich weiß noch, daß ich >meerschaumgrün<
dachte, ungeheuer zufrieden mit meiner Poesie, während ich
zusah, wie die Frau an dem Ledergürtel herumfummelte, als
der sich im Reißverschluß verklemmte… Wie
kommt es bloß, daß ich mich so deutlich an diesen
blöden Moment erinnere?«
»Das ist unwichtig«, sagte Shahid. Ein Ölfilm
glänzte auf seiner braunen Haut. »Kommt Ihnen dieser
Moment vertraut vor? Haben Sie das Gefühl, daß
Sie wieder ein Kind sind?«
»Nein. Es ist nur eine Erinnerung«, sagte Caroline
langsam. »Ich bin jetzt ein anderer Mensch.«
Shahid beobachtete sie. Er hatte immer noch den Dolch in
seinen kleinen, kräftigen Händen.
»Wozu soll das dann gut sein? Warum mache ich das alles
durch, wozu erinnere ich mich überhaupt an dieses Leben,
wenn es so distanziert ist… wissen Sie, wieviel
beschissene Distanz ich in meinem Leben schon habe?
Herrgott…«
Ihr Ausbruch schien zu bewirken, daß Shahid nur noch
förmlicher wurde. Selbst sein Ton änderte sich.
»Erinnerungen formen uns, Miss Bohentin. Sie sind jetzt ein
anderer Mensch, aber der Mensch, der Sie sind, ist durch diesen
Moment bei Bloomingdale’s geformt worden, und der Moment
bei Bloomingdale’s ist von der kleinen Mathilde in ihrer
Küche geformt worden. Verstehen Sie? Es ist gut zu wissen,
was uns formt.«
»Und das ist alles? Eine Freudsche Geschichtslektion?
Das ist alles?«
Shahid legte den Dolch wieder in die Ledertasche und zog deren
Reißverschluß zu. »Sie sind
wütend.«
»Ist das alles? Sagen Sie mir die Wahrheit!«
»Wie ist Mathilde gestorben?«
»Gestorben?« Sie mußte nachdenken. Zuerst
kam keine Erinnerung; dann doch. »Nun… sie ist
gestorben… Ich habe Guillaume nicht geheiratet. Ich starb,
als ich elf war. Am Schwarzen Tod.«
Sie runzelte die Stirn. Diese Erinnerung war sonderbar
distanziert, wie die anderen auch. Trotzdem war es
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