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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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der Tod, ihr
Tod. Ihr Hals schwoll an, sie konnte nicht schlucken, und
überall war der Gestank des Sterbens, der ihr den Atem
nahm… Sie erkannte, wie diese Erinnerung ohne Distanz
wirken mochte.
    »Wenn uns der Tod so real vorkommen würde wie das
Leben, würden wir alle verzweifeln«, sagte Shahid, und
sie hörte einen Unterton in seiner Stimme, der stark genug
war, um ihren Blick auf sein Gesicht zu lenken. Er befingerte das
goldene Kreuz an seiner Brust, sagte jedoch nur: »Der
Schwarze Tod kam im vierzehnten und dann wieder im siebzehnten
Jahrhundert nach Europa. Wissen Sie, in welchem Jahr Mathilde
starb?«
    Caroline schüttelte den Kopf. »Sie…
ich…« Ein jäher Schwindel befiel sie, eine
herabstoßende schwarze Ohnmacht, die wie eine Welle
über sie hinwegspülte. Sie schlug die Hände vors
Gesicht und lachte zittrig. »Ist nicht leicht, zwei
Menschen zu sein, von denen einer tot ist. Wenn
ich…« – der Lachkoller begann tief in ihrer
Kehle, schäumend wie Sekt -»wenn ich… einen
dritten dazunehmen würde… könnte ich eine
heilige Dreifaltigkeit sein!«
    »Miss Bohentin…«
    »Im Namen der M-mutter, und der Großmutter, und
des H-heiligen holographischen Geistes –
A-a-a-men!«
    »Nehmen Sie sich zusammen, Caroline.«
    »Nein, es ist lächerlich, verstehen Sie das nicht?
Ich könnte eine ganze Kirche gründen – ich
könnte… ich könnte…«
    Sie bekam es nicht unter Kontrolle. Das Lachen kam, und
zwischen den Lachsalven konnte sie nichts weiter tun, als die
Hand auf Pater Shahids Arm zu legen und sich dort
festzuhalten.
    »Ich könnte die ganze verdammte Kirche sein,
komplett, Klerus, Kirchgänger und Chor, alles in m-meiner
Person… ich hab früher mal gesungen…
g-g-glauben Sie, daß die katholische Dreifaltigkeit dadurch
entstanden ist, daß jemand ein spontanes Eufeln erlebt und
den Anschluß an sein… sein Übergedächtnis
gefunden hat…«
    »Ja«, sagte Pater Shahid zu ihrer
Verblüffung. Er lächelte nicht. »Wissen Sie, in
welchem Jahr die kleine Mathilde starb?«
    Kurz darauf hatte sie lange genug zu lachen aufgehört, um
ihm zu antworten. »Nein. Sie hat nicht gewußt,
welches Jahr es war, ich konnte es nicht…«
    »Wer war König?«
    Der Versuch, sich zu erinnern, ernüchterte sie. Die
Antwort überraschte sie, weil sie mit einer Ehrerbietung
herauskam, die sie nicht empfand. »Seine Majestät
Philippe von Valois.«
    »Frankreich. Philippe VI. Er regierte von 1328 bis
1350.« Caroline sah ihn mit neuem Respekt an. Der kleine
Priester schien es nicht zu bemerken. »In Kürze wird
Ihnen jemand zeigen, wie man das globale Reinkarnations-Datennetz
benutzt. Sie können herausfinden, ob jemand aus derselben
Dekade oder demselben Dorf kommt. Wie hieß es?«
    »Mur de Ronce.« Sie ließ sich den fremden
Namen auf der Zunge zergehen. »Aber die Chancen, daß
ein anderer Karnie von dort kommt, bei all den Milliarden von
Menschen, die je gelebt haben…«
    »Sind besser, als Sie denken mögen.« Shahids
glattes braunes Gesicht legte sich auf einmal in angespannte
Falten. Wieso ist er so angespannt, dachte Caroline. Ihre eigene
Haut fühlte sich brüchig an, wie dünnes
Papier.
    »Machen wir weiter«, sagte Shahid. »Daran
werden Sie sich erinnern.« Er holte eine in
ungleichmäßigem Blau glasierte chinesische
Porzellanschachtel mit einem Deckel aus seiner Tasche. Die Ecken
waren abgerundet und ein bißchen unregelmäßig.
Ein paar schwarze Emaillestriche auf dem Deckel skizzierten einen
blühenden Zweig, der aus einem Felsen wuchs.
    »Oh«, sagte Caroline. »Oh…«
    Die Schachtel paßte genau in ihre rechte Hand. Sie
schloß die Augen, und die andere Hand krallte sich
ungestüm ins Bettlaken.
    »Ja?« sagte Shahid erwartungsvoll.
    »Die Flöte. Ich höre Tsemos
Flöte.«
    »Wie heißen Sie?«
    »Linyi. Ich bin Linyi.« Sie schlug die Augen auf.
»Nein – ich bin Caroline!«
    Shahid lächelte. »Diese Erinnerung muß viel
stärker sein als Ihre Mathilde.«
    »Ich bin so glücklich.« Shahids Miene
wurde noch angespannter, aber Caroline bemerkte es kaum. Sie
stand am Rand des kleinen Hofs, die hübschen Goldfische
blitzten im kleinen Teich unter den langen, goldenen Schatten des
späten Nachmittags, die Konfektschachtel lag kühl in
ihrer Hand, und die Luft war vom süßen Klang von
Tsemos Flöte erfüllt. Im angrenzenden Hof spielten ihre
Kinder; ihr Gelächter war silbern und hoch. Tsemo drehte
sich um, nahm die

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