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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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gesprochen.«
    Joe hatte Prokops merkwürdiges Verhalten vergessen.
»Er hat gesagt: >Aber ich kann mich nicht erinnern.
Genau wie am Anfang, aber ich kann mich nicht
erinnern.<«
    Caroline betrachtete ihn amüsiert. »Ja, aber nicht
in diesem Ton. Sie sind ein lausiger Schauspieler. Ich finde das
wundervoll, wissen Sie. Ich verabscheue Schauspieler.«
    »Warum?«
    Caroline antwortete nicht. Statt dessen sagte sie:
»Prokop hat das immer wieder gesagt, nachdem Sie beim
Rathaus ausgestiegen waren. >Aber ich kann mich nicht
erinnern, aber ich kann mich nicht erinnern.< Ich glaube, er
war… nicht in einer Erinnerung, aber er bemühte sich,
in einer zu sein.«
    »Schon möglich«, sagte Joe knapp.
    »Deshalb habe ich ihn später gefragt, an welches
Leben er sich erinnern zu müssen glaubte. Er hat gesagt
>An das von Armand Kyle.<«
    Joe blieb stehen. »Was?«
    »Das hat er gesagt. Er glaubt, er war Armand
Kyle.«
    Joe schaute nach Norden übers Wasser, Richtung Kanada,
sechzig Meilen außer Sichtweite. Er war wie betäubt,
obwohl er nicht genau wußte, weshalb. Armand Kyle war ein
geachteter Wissenschaftler gewesen, ein Genie der Gentechnik, und
hatte an der University of Southern California gearbeitet. Er war
auch ein enger Freund von Sam DeLorio gewesen, dem Finanzier, der
zum Renegaten und Evangelisten geworden war und die gaistische
Bewegung gegründet hatte. Im Alleingang hatte DeLorio eine
vorsichtige wissenschaftliche Hypothese in eine gefährliche,
quasireligiöse Bewegung umgesetzt. Nein, nicht im
Alleingang. In der Presse war darüber spekuliert worden,
daß Kyle das Gehirn hinter DeLorios strahlender Fassade
war. DeLorios Unternehmen – er hatte in den
Aufsichtsräten einer Reihe miteinander verflochtener Firmen
gesessen – profitierten von der Lockerung der staatlichen
Gesetze und Vorschriften, die zum Teil durch die lautstark
erhobene öffentliche Forderung nach AIDS-Heilmitteln –
selbst nach weitgehend ungeprüften AIDS-Heilmitteln –
und zum Teil durch die Lobby der Gaisten bewirkt worden war.
DeLorio war eine labile, ja sogar korrupte Figur gewesen, die
einigen Dreck am Stecken gehabt hatte – außer
natürlich für die Gaisten.
    Kyle hatte ebenfalls von der Machtübernahme der
Neolibertären profitiert. Staatliche
Forschungsbeschränkungen waren aufgeweicht worden. Kyle
hatte an Slow Viren gearbeitet, als er gestorben war, ermordet
von einer schwulenfeindlichen Gruppe, die man nie wirklich
identifiziert hatte. Der Mord hatte international Schlagzeilen
gemacht, eine ekelerregende Mischung aus Gemetzel und Geld. Paul
Winter, Kyles junger Geliebter, war in derselben Nacht
verschwunden, und sein Leichnam war nie gefunden worden. Einige
Anwälte hatten spekuliert, daß Winter den Mord
begangen hatte, aber Joe hatte den Fall auf der juristischen
Fakultät studiert, und es gab nicht viele Indizien
dafür. Niemand war je vor Gericht gestellt worden. Der ganze
Mordfall war ein Totem für die neunziger Jahre geworden,
weil sich in ihm die Gegenreaktion auf AIDS, Gaismus, soziale
Wut, neolibertäre Politik und die Berichterstattung in den
neuen Holovideo-Medien vermischten, die alles in lebendiger
dreidimensionaler Lasertechnik überlebensgroß
machten.
    »In welchem Jahr ist Kyle ermordet worden?« fragte
Joe.
    »1996.«
    »Ist Prokop in meinem Alter, in den Dreißigern?
Ich war sechs Jahre alt, als Kyle starb. Prokop sieht älter
aus.«
    »Ist er auch. Das ist ja das Merkwürdige daran. Er
ist fünfzig, und er kann unmöglich Armand Kyle sein.
Als Kyle ermordet wurde, war Prokop schon vierundzwanzig. Aber er
hat sich eingeredet, daß wir keinen blassen Schimmer davon
haben, wie das Eufeln eigentlich funktioniert, und daß die
Wiedergeburt manchmal in einem bereits existierenden Geist
vonstatten geht. Anscheinend hatte er sowas wie eine
religiöse Erfahrung, als er zehn war. Er hatte eine Vision,
ist hingefallen und hat unverständliches Zeug
geredet.«
    Ihr Ton war trocken. Joe verstand; selbst das Wort
>Wiedergeburt< klang töricht. Die operative
Erschließung früherer Leben sollte nichts Mystisches
haben; sie sollte eine wissenschaftliche Realität sein. So
wurde sie verkauft. Bei Mystik wurde den Leuten unbehaglich
zumute – mit Ausnahme der Gaisten natürlich.
    Robin hatte Mystik geliebt.
    »Beim Psychotest ist das Institut ja wirklich
Spitze«, sagte er.
    »Tja – Prokop hat einen ganz normalen Eindruck
gemacht. Auf mich

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