Schädelrose
»Kommen Sie rein, Joe. Nehmen Sie
Platz.«
In ihrem Zimmer mußte er unwillkürlich blinzeln.
Auf jeder Fläche stand ein Stück chinesisches
Porzellan. Eine hohe, schlanke Vase, die mit silbernen Fasanen
bemalt war. Zwei leuchtend gelbe Schalen mit eisenroten
Fledermäusen. Ein Wasserkrug, dessen Kurven so
fließend wie Stoffbehänge waren. Und auf der
Frisierkommode ein halbes Dutzend Porzellanschachteln mit
Deckeln, von einer, die so groß war wie seine Hand, bis zu
einer winzigen, exquisiten, taubenblauen Ringschachtel.
»Handeln Sie mit Antiquitäten?«
Caroline lachte. In dem Lachen klang eine gewisse Verlegenheit
mit und auch ein Funke Ärger, den Joe nicht verstand.
»Ja, aber nicht mit chinesischem Porzellan. Ich handle mit
antiken Puppenstuben. Das hab ich Ihnen doch mal erzählt.
Das Porzellan ist… für etwas, woran ich mich
erinnere.«
Ein früheres Leben. Er wollte nichts davon hören.
»Haben Sie Lust, einen Spaziergang am See zu
machen?«
»Sicher. Ich hol mir rasch einen Pullover.«
Joe warf einen letzten Blick auf das Porzellan und versuchte
sich auszurechnen, wieviel Geld dort in zerbrechlichem Luxus
herumlag. Im Fahrstuhl war Caroline schweigsam. Draußen war
gerade die Sonne untergegangen, und der Himmel war reines
Schieferblau. Sie schlenderten über die Wiese zum See.
Caroline sagte abrupt: »Sie können mich nicht so
recht akzeptieren, stimmt’s, Joe?«
Er wußte nicht recht, was er darauf antworten sollte.
Caroline lächelte. »Ja, es stimmt. Sie denken, weil
ich nicht von den Sozialhilfeprojekten in Pittsburgh komme, habe
ich keinen Kontakt zur Realität.«
»Woher wissen Sie, daß ich aus Pittsburgh
bin?«
Sie lächelte erneut und warf ihm einen Seitenblick voller
ärgerlicher Belustigung zu, die sich irgendwie genauso gegen
sie selbst zu richten schien wie gegen ihn. »Glauben Sie
nach dem heutigen Nachmittag immer noch an die
schwulenfeindlichen Gesetze?«
Ihre falsche Einstellung verschlug ihm die Sprache, bis er
erkannte, daß es Absicht war. Sie wollte ihn provozieren;
sie wollte kämpfen. Mit umständlicher und
künstlicher Geduld sagte er: »Ich hab’s Ihnen
schon mal gesagt – sie sind nicht schwulenfeindlich. Sie
sind gesellschaftsfreundlich. Einschränkung potentiell
schädlichen Verhaltens zum Wohle des größeren
Ganzen. Und ja, ich glaube immer noch an die positiven
Auswirkungen dieser Entscheidung.«
Sie schwieg. Er war gerade zu dem Schluß gekommen,
daß der Spaziergang ein Fehler war, daß sie daran
interessiert war, Spielchen zu machen, die er nicht mochte, als
sie leise sagte: »Das Porzellan ist echt, ja. Das haben Sie
sich doch gefragt. Es stammt alles aus der Yung-Cheng-Periode der
Ch’ing-Dynastie. Ich habe damals gelebt, und ich war sehr
glücklich. Ich hatte damals ein perfektes Leben.«
»Niemand hat ein perfektes Leben«, sagte Joe
automatisch.
Caroline blieb stehen und drehte sich zu ihm. Sie waren auf
halbem Wege zwischen dem Institut und dem See, unter einem der
riesigen, ausladenden Ahornbäume. Ein einzelner Stern
leuchtete niedrig über dem Wasser. »Warum nicht? Warum
sollte nicht irgendwer irgendwo ein perfektes Leben haben? Wenn
die Statistik sagt, daß sich alles Menschliche auf einer
glockenförmigen Kurve verteilt, warum sollte es da
draußen am anderen Ende nicht jemanden geben, der absolut
glücklich ist? Warum nicht?«
Joe wußte keine Antwort. Ihre Vehemenz erschreckte ihn.
Sie stand da, rieb sich einen Unterarm mit der anderen Hand und
wartete. Nach einer Weile zuckte er die Achseln, hob beide
Hände mit den Handflächen nach außen und zeigte
damit, daß er sich geschlagen gab. Caroline lachte
widerwillig.
»Das ist keine Geste, die ich von jemandem erwartet
hätte, der so stur ist wie Sie.«
Das tat weh. Sie mußte es gesehen haben; sie hörte
auf, ihren Unterarm zu reiben, und legte ihm eine Hand auf die
Schulter.
»Tut mir leid.«
»Ist schon gut.«
»Nein, ist es nicht. Es war dumm, sowas zu sagen. Aber
trotzdem« – ihre Stimmung änderte sich so rasch,
daß ihm schon vom Zusehen ein bißchen schwindlig
wurde – »trotzdem, Sturheit ist eigentlich
eine bewundernswerte Eigenschaft. Zu wissen, wer man ist. Soweit
ich weiß, erwägen sie, einen Oskar dafür zu
verleihen. >Die höchsten Prinzipien in einer
langwährenden Wirklichkeit.< Und der Gewinner ist… Nicht wie der arme Mister Prokop. Ich habe
nach diesem Blutbad heute nachmittag mit ihm
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