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Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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gehabt, daß Angels grelle Fassade
– sein naßforsches Auftreten, die ewigen Parties, der
altmodische Latino-Machismo – eine ebenso bewußte
Parodie war wie alles andere. Darunter hatte Angel das
effektivste Organisationsgehirn, dem Joe je begegnet war. Er
hatte ein Talent, Einzelheiten im Blick zu behalten, so klar und
markant wie das absolute Gehör, und wie jedes andere
große Talent wurde es von Äußerlichkeiten
eigentlich nicht beeinflußt. Auch mit einer bunten Hose und
einem Stirnband aus antiken Leitungsdrähten war Angel immer
noch ein Organisationsprofi. Also was, zum Teufel, ging da
vor?
    Er tippte erst den Code zur Bezahlung einer optischen
Direktschaltung und dann die Vorrangnummer für Angels
Workstation in der Praxis ein. Es war sechs Uhr; um diese Zeit
würden so gut wie alle bereits weg sein, aber Angel machte
häufig Überstunden. Vielleicht würde Joe ihn
gerade noch erwischen.
    Angel meldete sich nur über Audio. »Hallo. McLaren
and Geisler.«
    »Hier ist Joe. Geh auf Video, Angel.«
    Eine kurze Pause. »Hola, Boss. Video ist
kaputt.«
    Joe gab rasch einen Code ein. Ein kalter Klumpen formte sich
in seinem Magen. »Nein, stimmt nicht, Angel. Was ist los,
verdammt noch mal?«
    Wieder ein Schweigen, dann Angels Stimme, schrill und
wütend. »Gibt’s da eine Ferndiagnose, von der
Sie mir nie was gesagt haben?«
    »Geh auf Video.«
    Angel gehorchte. Sein Gesicht füllte den Bildschirm aus,
keine fünfzehn Zentimeter entfernt. Seine Augen funkelten
wütend. Trotz alles anderen, was er an diesem Tag gesehen
hatte, war Joe schockiert. Das Fett war aus Angels Gesicht
geschmolzen; seine Augen waren rote Spinnennetze in tiefen
Höhlen. Seine Haut war teigig geworden, und jetzt war sie
fleckig vor Zorn. »Verdammt, was soll das, Boss?«
    »Genau das wüßte ich gern von dir. Diese Akte
ist eine richtige Schlamperei, Angel. Wo ist der amicus-curiae- Schriftsatz im Fall Henderson gegen den
Staat Virginia von diesem fossilen Bio-Professor? Und wo
ist…«
    »Ich muß weg.«
    »Weg? Angel…«
    »Ich muß weg, Mann!« schrillte Angel, und
Joe hörte, wie eine Tür zufiel. Angels
Bürotür, die hinter dem bildfüllenden, hageren
Gesicht seines Sekretärs verborgen war.
    »Was ist denn los, Angel? Was für
Probleme…«
    Der Bildschirm wurde dunkel. Joe rief noch einmal an; niemand
meldete sich. Er stellte die Verbindung durch eine ferngesteuerte
Vorrangschaltung her, aber der Schirm zeigte ihm nur die Decke
des Büros. Angel hatte ihn waagrecht gestellt, als er die
Verbindung unterbrochen hatte.
    Joe rieb sich das Kinn. Auf einmal wurde ihm übel vom
Geruch des Fleisches auf dem silbernen Tablett. Er wählte
die Nummer von Bill Geisler an, seinem Partner; sie waren
eigentlich nicht befreundet, und Bill hatte seine eigene
Sekretärin, aber vielleicht wußte er, was mit Angel
los war. Bill war nicht zu Hause. Joe versuchte es bei Joana
Sullivan, Angels verheirateter Schwester in Georgetown, der
einzigen Verwandten, die Angel je erwähnt hatte. Sie war
ebenfalls nicht da. Der wilde Reis auf dem Tablett war inzwischen
verklumpt. Joe schaltete das Terminal aus, ging zu Caroline
hinüber und klopfte bei ihr an.
    Sie hatte sich umgezogen. Statt des blauen Kleides mit
Löchern trug sie nun Jeans, eine gelbe Baumwollbluse und ein
graues Lederstirnband. Als sie die Tür aufmachte, wirkte ihr
Blick zerstreut; er wurde jedoch schärfer, als sie sah,
daß es Joe war. Eine leichte Wärme schmolz die
Eisränder in seinem Bauch.
    »Ich wollte mal nachschauen, wie es Ihnen
geht.«
    »Oh, sehr gut. Frau Doktor war da, um mit mir zu
sprechen – Queen Armstrong persönlich. Dann war die
Haushälterin da, um mit mir über ein passendes
Dinnertablett für die Überlebende eines Überfalls
zu sprechen. Dann war Shahid da, um mit mir zu sprechen –
obwohl er natürlich der einzige war, mit dem ich wirklich
sprechen wollte. Pater Patrick Martin Shahid. Was für ein
Rätsel. Reden Sie oft mit ihm?«
    »Nein«, sagte Joe. Obwohl er Erinnerungssitzungen
mit dem Krankenhaushistoriker hinter sich hatte – die
meisten unproduktiv –, hatte er das Gefühl, ihn kaum
zu kennen.
    »Sollten Sie aber«, sagte Caroline lächelnd,
wobei sie die Tür immer noch nicht weiter als einen halben
Meter aufmachte. Joe wich nicht von der Stelle. Kurz darauf
schien ihr zu dämmern, daß es ein Wettkampf gewesen
war; ein anerkennender Glanz trat in ihre Augen, und sie trat
zurück.

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