Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schädelrose

Schädelrose

Titel: Schädelrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
Vom Netzwerk:
sahen aus, als ob Sie in Trance
wären.«
    Sie lächelte wehmütig. Das chinesische Porzellan lag
locker in ihren Fingern. »Manchmal… verliere ich
mich ein bißchen in einem früheren Leben. Für
eine Weile. Ist keine große Sache.«
    »Nicht?«
    »Nein. Mir gefällt’s.«
    Er musterte sie weiterhin, und sie lachte. Ihre Augen tanzten
plötzlich. »Joe, Joe. Macht Ihnen schon so ein kleiner
Kontrollverlust Angst?«
    »Sie sollten mit Shahid sprechen.«
    »Hab ich schon. Er sagt, ich kann lernen, es zu
kontrollieren, wenn ich es übe. Ich bleibe noch ein paar
Wochen länger, um das zu trainieren.«
    Er spürte, daß an der Situation mehr dran war, als
sie sagte. Das galt auch für Shahids Reaktion. Ihre
Stichelei über Kontrolle schmerzte; sie war zu nah dran an
dem, was Robin während ihrer Ehe zu ihm gesagt hatte. Der
wahre Grund, warum du die Gaisten haßt, ist, daß sie
die Kontrolle an eine größere Macht abgeben, stimmt’s? Dann könntest du dir nicht mehr
einbilden, du würdest deine kleinen sogenannten rationalen
Entscheidungen treffen.
    Er sah zu, wie Caroline ihr unbezahlbares Porzellan zur
Kommode brachte. Licht spielte über ihren gesenkten Kopf und
hob feine Schattierungen in ihrem braunen Haar hervor.
Zimtfarben, dachte er. Sealbraun. Was noch? Woher, zum Teufel,
sollte er das wissen. Er war kein Maler. Und die Haarfarbe war
nicht mal echt. Gekauft, wie das Porzellan, wie das Recht, ihren
Spott mit ihm zu treiben.
    »Sind Sie nicht hungrig?« fragte Caroline.
»Ich hab noch gar nicht zu Abend gegessen.« Als er
nicht antwortete, sah sie ihn genauer an, und ihre Miene
änderte sich. »Nein, Sie sind nicht hungrig, nicht
wahr. Sie sind auf Streit aus.« Sie verlagerte ihren
Körper ein bißchen nach vorn, wippte beinahe auf den
Zehen. Wie eine Tänzerin, dachte Joe. Oder ein Boxer.
Bereit. Die Theatralik darin irritierte ihn.
    »Was ich über ihre Selbstkontrolle gesagt habe, hat
Ihnen nicht gefallen«, sagte sie.
    »Nicht besonders, nein.«
    »Weil es nicht wahr ist?«
    »Weil es ein billiger Hieb gegen eine reale Wahrheit
ist. Es ist nichts Schlechtes, sich unter Kontrolle zu haben.
Oder Entscheidungen zu treffen.«
    »Aber es ist schlecht, seine Erinnerungen zu
genießen?« O ja, sie war bereit zu streiten,
durchaus. Ihre Augen glänzten vor Wut. Joe stellte
überrascht fest, wie sehr er selbst bereit war, zu
streiten.
    »Es ist nicht gut, in Erinnerungen zu schwelgen«,
sagte er.
    »Wirklich? Und wieso nicht? Analysieren Sie mir das doch
bitte mal.«
    »Es ist irrelevant. Es ist eine Flucht.«
    »Wovor?« Sie lächelte amüsiert.
Anscheinend war es ihre Art zu streiten, sich cool und
überlegen zu geben.
    Er haßte das, und es brachte ihn dazu, Dinge zu sagen,
die er sonst nicht gesagt hätte.
    »Vor der Wirklichkeit. Vor jedem Problem, das zu
tiefgreifend ist, um sich mit Geld lösen zu lassen. Vor der
Verpflichtung erwachsener Menschen, sich eine Identität zu
schaffen, indem man Entscheidungen trifft, anstatt vor ihnen zu
fliehen.«
    Carolines Lächeln wurde noch breiter. Darüber
glitzerten ihre Augen gefährlich. »Na sowas. Was
für eine faszinierende Philosophie. Haben Sie lange
gebraucht, um die richtigen Formulierungen zu finden? Und vor
welchen Entscheidungen fliehe ich denn angeblich? Sagen Sie mir
doch mal aus Ihrer enormen Erfahrung in der Arbeit mit
Seuchenopfern, Herr Anwalt, welche
Entscheidungsmöglichkeiten der Mutter eines
zehnjährigen Kindes bleiben, das die Krankheit
hat?«
    »Das habe ich nicht gemeint«, sagte Joe. Er
mußte plötzlich an Angel denken, weil sie ihn mit
>Herr Anwalt< anredete. Herrgott, was für ein
beschissener Tag.
    »Nein, natürlich nicht. Sie deuten es nur an, aus
ihrem gewaltigen Fundus richtiger Antworten heraus. Wie sie in
Gesetzen codifiziert sind, natürlich. Ich flüchte also
nicht nur davor, Entscheidungen zu treffen – oder vielmehr
sogar vor der >Verpflichtung erwachsener Menschen<, Entscheidungen zu treffen – ich flüchte auch davor,
>mir eine Identität zu schaffen<. Also, dann
schöpfen Sie mal aus Ihrem Grundkurs-Philosophie-Programm
und beantworten Sie mir folgende Frage: Was glauben Sie wohl, was
Identität anderes ist als Erinnerung? Was sind Sie, wenn Sie alles wegstreichen, woran Sie sich erinnern, alles, was
Sie in der Vergangenheit getan haben und was die Entscheidungen
prägt, die Sie in der Gegenwart treffen? Nichts.
Überhaupt nichts.«
    »Stimmt nicht. Ich

Weitere Kostenlose Bücher