Schädelrose
erfinde mich und meine Identität
in jedem Augenblick neu. Und zwar in der Gegenwart.
Durch Entscheidungen, die von einer moralischen Vision
geleitet sind.«
»Entscheidungen, die Sie auf der Grundlage von
Erinnerungen treffen!«
»Die sind nur das Datenrohmaterial dafür«,
sagte Joe.
»Und wovon wird das verarbeitet? Von Ihrer
>unsterblichen Seele Ich bitte Sie, Joe!«
»Von meinem Verstand«, sagte Joe. Er war ein wenig
überrascht von der Heftigkeit, mit der sie argumentierte; er
hatte nicht damit gerechnet, daß sie viel über solche
Dinge nachgedacht hatte. Doch ihr weißes Gesicht blitzte
ihn an wie Eis. »Ich erfinde mich selbst, Caroline. Tag
für Tag. Durch die Konsistenz meiner
Entscheidungen.«
»>Konsistenz >Konsistenz möglich, daß ein menschliches Wesen, das älter
als sieben Jahre ist, konsistent handeln kann? Oder für
wünschenswert? In einer Welt wie der unseren?«
»Ich glaube, daß man es versuchen kann«,
sagte Joe so ruhig, wie er konnte. Ihr spöttisches
Lächeln war verschwunden. Sie sah aus, als ob sie ihn am
liebsten in Stücke reißen würde.
»Ich will Ihnen sagen, was Konsistenz ist, Herr Anwalt.
Konsistenz ist, wenn man immer wieder das gleiche tut, weil man
es früher schon getan hat. Konsistenz ist, wenn man Briefe
schreibt, die alle genau gleich sind. Konsistenz ist die
Seuche.«
»Nicht diese Art von Konsistenz!«
»Welche Art dann? Was glauben Sie, zum Teufel, wie viele
Arten es gibt?«
»Zumindest noch eine weitere. Die Konsistenz, sich
jedesmal wieder für das zu entscheiden, was man für
richtig hält. Statt den einfachsten Ausweg zu
wählen.«
»Selbst wenn man dafür Opfer bringen muß,
nehme ich an.«
»Selbst wenn man dafür Opfer bringen
muß.«
Ihr Gesicht verzog sich vor Verachtung. »Sie sind ein
richtiger Musterknabe, Joe.«
»Und Sie sind ein verzogenes reiches
Gör.«
Sie starrten einander zornig an. Joe war entsetzt über
sich selbst. Wie hatte er so die Beherrschung verlieren
können? Er war verletzt, wie es früher häufig der
Fall gewesen war, wenn er sich mit Robin gestritten hatte. Er
wollte Caroline eine Ohrfeige geben – nein, er wollte die
Hand ausstrecken und ihr über die Haare streichen, ihr
sagen, daß es ihm leid tat. Aber es tat ihm nicht leid. Er
war…
»Schon gut, Joe. Schon gut«, sagte Caroline
müde. Die Streitlust schien mit einemmal aus ihr gewichen zu
sein. Ihr Gesicht sah blaß und müde aus.
»Offenbar kommen wir bei diesem Thema nicht auf einen
Nenner. Warum lassen wir’s also nicht einfach dabei
bewenden. Ich habe keine Ausbildung und Erziehung, die vom Geist
der Verfassung geadelt ist, und Sie haben keine Tochter, die die
Seuche hat.«
»Ich hatte ein Frau, die mich verlassen hat und zu den
Gaisten gegangen ist«, sagte er und ärgerte sich
sofort über sich selbst: Ausgerechnet mit so einer
jämmerlichen, selbstmitleidigen, dämlichen Sache
mußte er herausplatzen…
Aber Caroline schaute interessiert drein. Er sah, wie sich der
ungeschminkte Mund in ihrem abgespannten Gesicht öffnete, um
eine Frage zu stellen, als das Telefon klingelte. Sie nahm den
Hörer ab.
»Ja… ja… ist sie am Leben?«
Joe blickte ruckartig auf. »Ist sie irgendwie
verletzt?… Wann, haben Sie gesagt? Und was genau ist
passiert?« Es gab eine lange Pause. Joe beobachtete
Carolines Gesicht, bis er wegschauen mußte. »Ich bin
in zwei Stunden da, vielleicht auch schon früher…
Wenn es sein muß. Aber lassen Sie auf keinen Fall zu,
daß er sie mitnimmt, verstanden? Ich habe das
Sorgerecht.«
»Was ist los?« fragte Joe.
Sie legte auf, aktivierte das Wandterminal und gab eine
schnelle Abfolge von Codenummern ein, bevor sie ihn wie von fern
ansah. Ihr Gesicht war ruhig und gelassen. Sie griff sich ihre
Handtasche und ging zur Tür. Joe packte sie am Arm.
»Caroline?«
»Auf Catherines Heim ist ein Sprengstoffanschlag
verübt worden.«
»Ist sie…«
»Wohlauf. Ja. Danke«, sagte Caroline so
distanziert und förmlich, als ob sie japanischen
Anwälten Tee einschenken würde. Diesen Gesichtsausdruck
hatte Joe zum letztenmal bei einem Angeklagten gesehen, der
während eines Konkursverfahrens die ganze Zeit mit
höflich gesenktem Kopf dagesessen und sich
anschließend erschossen hatte. Es gab alle möglichen
Arten von Konkursen, dachte er.
»Ich komme mit.«
»Warum?«
»Ich bin Anwalt. Und ich hatte zufällig
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