Schäfers Qualen
Kotzlacken im Schnee … die Schattenseiten waren es, an die er sich erinnerte – aber davon wollte verständlicherweise niemand Fotos aufbewahren. Auf der fünften Doppelseite fand er erstmals ein Bild, auf dem Steiner abgebildet war. Gemeinsam mit Hinterholzer und einem anderen Skilehrer, der, falls er nicht in einer Gletscherspalte konserviert lag, sicher längst schon zu Humus geworden war, wie Schäfer aus dem etwa siebzigjährigen Gesicht des Mannes schloss. Auf derselben Seite war Steiner auf der Übungswiese am Fuß des Hahnenkamms mit zwei Erwachsenen und einem vielleicht fünfjährigen Jungen zu sehen. Während die Frau und der Mann Pelzbeziehungsweise Lodenmantel trugen, war der Junge in dicke Skikleidung gehüllt und hob stolz beide Skistöcke in die Höhe. Schäfer legte ein Stück Papier ein und blätterte weiter. Nachdem gut zwanzig Merkzettel zwischen den Seiten steckten, wurde sich Schäfer bewusst, dass sein Tun Zeitverschwendung war. So gern er in der Sicherheit vergangener Zeiten blätterte, so wenig brachte ihn diese Arbeit voran. Er brauchte jemanden, der die Leute kannte und ihm beim Betrachten der Bilder die Erklärungen dazu lieferte. Hinterholzer hatte ihm gesagt, dass Danninger zu dieser Zeit viel fotografiert hatte und Schäfer wusste, dass der Pfarrer über ein außergewöhnliches Gedächtnis verfügte. Er legte das Album beiseite und griff zum Telefon.
Die Pfarrköchin nahm den Hörer ab. Schäfer stellte sich so umfassend vor, bis sie ihn wieder in Erinnerung hatte, und fragte dann nach dem Pfarrer.
„Der ist außer Haus, Johannes. So schade“, bedauerte die Köchin den Umstand, einem ehemaligen Ministranten eine negative Antwort geben zu müssen. Doch da Schäfer wusste, dass ihre Fähigkeit, chronologisch zu denken – also etwa die Rückkehr des Pfarrers in Erwägung zu ziehen oder ihm vielleicht sogar den genauen Zeitpunkt mitzuteilen – bei weitem nicht mit ihren Brotbackkünsten mithalten konnte, fragte er sie nach dem Grund seiner Abwesenheit und nach seinem voraussichtlichen Wiederkommen.
„Ja, das ist eine gute Frage“, musste sie selbst feststellen, „mehr als dass er kurz weg ist, hat er nicht gesagt … aber zum Essen wird er wieder da sein.“
„Bist du sicher?“, konnte sich Schäfer eine kleine Verunsicherung nicht verkneifen.
„Aber ja, heute hab ich ein Schweinernes im Rohr, das riecht der doch bis nach Brixen hinauf“, lachte sie, ohne Schäfers Provokation zu bemerken.
„Na gut, dann“, meinte Schäfer, bevor ihm die Pfarrköchin ins Wort fiel.
„Ja, magst kommen? Ist mehr als genug da, und wegen dem Cholesterin soll er eh aufpassen, hat der Doktor gesagt.“
Er überlegte nicht lange und sagte, dass er um Punkt zwölf Uhr dreißig da sein würde.
Nachdem Schäfer das Bild saftiger Serviettenknödel und leicht gezimteten Blaukrauts vertrieben hatte, fiel ihm wieder ein, dass er Bergmann seine Zusammenfassung schicken musste. Er öffnete das Mailprogramm, verfasste eine neue Nachricht, hängte die Datei an und schickte sie vorsichtshalber an Bergmanns private Mailadresse.
Weil er noch eine gute halbe Stunde Zeit hatte, nahm er sein Mobiltelefon und wählte erneut die Nummer von Obernauers Witwe. Wider Erwarten meldete sie sich nach dem zweiten Läuten.
„Grüß Gott, Frau Obernauer, hier ist Johannes Schäfer von der … Ja, genau der … Denen geht es gut … Richte ich ihnen aus, ja, danke … Gut gefällt es mir, danke … Ja, schon seit über zehn Jahren … Ja, schon, aber daran gewöhnt man sich auch … Irgendwer muss es ja machen … Genau, Sie sagen es … Frau Obernauer, ich müsste mit Ihnen reden, wegen Ihrem Mann … Das kann ich noch nicht genau sagen, ob das was miteinander zu tun hat, aber … Aber reden sollte ich schon noch mit ihm, weil, weil er ja Ihren Mann gefunden hat und … Natürlich … Frau Obernauer, bitte verstehen Sie mich, da sind drei Männer umgebracht worden und der Krassnitzer hat mit Ihrem Mann … Ja, nur wegen dem Haus … Wann sind Sie denn daheim, dass ich … Den ganzen Nachmittag? … So um fünf herum? … Ja … Nein, das brauchen Sie nicht, wirklich nicht … Also gut, auf Wiedersehen, bis bald, Frau Obernauer.“
Er versuchte sich an den alten Obernauer oder seinen Sohn zu erinnern. Doch bis auf ein halbfertiges Gesicht kam bei beiden nichts heraus. Wenn er um fünf bei der Obernauer in St. Johann wäre und davor beim Pfarrer zum Mittagessen, nein, da würden sie das Buch anschauen, die Steiner
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