Schäfers Qualen
Obernauer hatte sich nicht selbst erschossen, da war sich Schäfer jetzt sicher. Er steckte den Schlüssel in den Anlasser und startete den Wagen. Als er in die Bundesstraße einbog, brach das Gewitter los. Der heftige Regen, in den sich einzelne Hagelkörner zu mischen begannen, ließ ihn kaum zehn Meter weit sehen. Er fühlte sich seltsam wohl dabei.
20
Im Vergleich zum Gemeindebau, in dem Schäfer eben zu Besuch gewesen war, nahm sich das Haus der Steiners wie ein Palast aus. Allein das Grundstück schätzte Schäfer auf zwei- bis dreitausend Quadratmeter. Vor dem verschachtelten, zweistöckigen Gebäude, das südseitig einen langen Balkon und zum Westen hin eine riesige Sonnenterrasse hatte, lag ein vergleichsweise bescheidener Pool, der in seiner blauen Chlorsauberkeit wie ein Ziergegenstand wirkte. Beim Haus selbst hatte Schäfer den Eindruck, als hätte sich der Architekt nicht zwischen der so bewährten wie einfältigen Bauernhausadaptionsoptik und einem modernen Wagnis entscheiden können. So war ein unglücklicher Bastard aus gemauertem Parterre und einem protzigen Aufbau mit reichlich Glas und auf alt geflämmtem Fichtenholz entstanden. Schäfer blieb am Anfang der gekiesten Auffahrt stehen, stellte den Motor ab und betrachtete das Gebäude: kein einziges offenes Fenster, keine benutzte Wäscheleine, keine herumstehenden Gartengeräte, kein Wagen in der Auffahrt … wohnte hier überhaupt jemand? Der Regen hatte mittlerweile aufgehört, die Wolken zogen ins nächste Tal weiter. Bevor Schäfer den Wagen startete, um die letzten hundert Meter zum Haus zu fahren, nahm er das Telefon aus seinem Jackett und wählte die Nummer des Postens.
„Hallo Kern, Schäfer hier. Gibt’s was Neues? … Ja, war ich … Schon in Ordnung … Kern, ich brauche was: Besorg mir bitte umgehend den Bericht zu Obernauers Selbstmord. Ich brauche dringend die Waffe, mit der er sich erschossen hat … Ja, alles … Noch was: Habt ihr einen Scanner auf dem Revier? … Gut … Ich komme in ungefähr zwei Stunden mit dem Buch vorbei und da bräuchte ich jemanden, der sich damit auskennt, um mir die alten Bilder zu digitalisieren … Und wenn du Zeit hast, schau bitte in der Datenbank nach, ob du was zu einem Friedrich herausfinden kannst, mit Nachnamen Friedrich, Vornamen hab ich noch keinen, ein Deutscher, der hat Ende der Siebziger auf der Kaiserhütte in Kirchberg gearbeitet, als Abwäscher … Meldezettel, Arbeitsgenehmigung, alles, was du auftreiben kannst … Ja, das wär’s einstweilen … Bis später.“
Schäfer beendete das Gespräch und überlegte, ob er noch Bergmann anrufen sollte, bevor er ins Geisterhaus der Steiners ging. Doch eigentlich hatte er ihm nichts Wesentliches mitzuteilen. Und wenn Bergmann etwas herausgefunden hätte, würde er sich sofort melden, darauf konnte Schäfer sich verlassen.
Er startete den Wagen und fuhr vor die Garage. Nahm die Papiertasche mit dem Buch, stieg aus, schloss ab und ging zur Eingangstür. Nach zweimaligem Läuten hörte er Schritte – Stöckelschuhe, die eine Treppe hinabschritten, wie er sich vorstellte.
Als eine Frau Ende vierzig die Tür öffnete, drehte sich Schäfer instinktiv um, weil er ihren erstarrten Gesichtsausdruck so deutete, dass sich etwas Bedrohliches hinter ihm befände. Doch da stand nur der Subaru des Pfarrers. Die Frau räusperte sich und trat zur Seite, um ihn ins Haus zu lassen. Schäfer war irritiert. Was war mit ihrem Gesicht? Hatte sich der Schock über den Tod ihres Mannes eingeätzt oder war sie eben aus einem Albtraum erwacht, der sie noch nicht losgelassen hatte? Unschlüssig stand er auf der Schwelle zum Wohnzimmer und wartete, bis sie etwas sagte.
„Möchten Sie etwas trinken, Herr … wie war noch mal der Name?“, wandte sie sich ihm zu, während sie hinter den Tresen der Hausbar ging und eine Glasvitrine öffnete.
„Schäfer, Major … mein Beileid noch einmal. Wenn Sie einen Averna oder was in Richtung Magenbitter haben, wäre ich Ihnen dankbar … darf ich mich setzen?“
„Natürlich, nehmen Sie Platz“, deutete sie auf die lederne Sitzgarnitur, die mehr Geld als Stil verriet. Schäfer nahm das Album aus der Papiertasche und ging damit entgegen ihrer Aufforderung zur Bar, wo er sich auf einen unbequemen Edelstahlhocker setzte und das Buch auf den Tresen legte.
„Weil Sie das Thema sowieso irgendwann anschneiden werden, erspare ich Ihnen die Umwege“, drehte sie sich zu ihm hin und stellte ein Glas mit brauner Flüssigkeit und
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