Schäfers Qualen
Schäfer selbst. Was sollte er jetzt tun? Am Revier anrufen und sich bei Kranz entschuldigen? Dem schweren italienischen Wein die Schuld geben, der seine Gedanken vernebelt hatte? Er sah sich schon vor dem Untersuchungsausschuss: Ja, mit wem hat er denn so gezecht, der Herr Major? Nun, werter Herr Richter, mit einem wichtigen Zeugen, einem gewissen Friedrich, ehemaliger RAF-Terrorist mit zehn Jahren Zuchthauserfahrung. Den habe ich über alle wesentlichen Details aufgeklärt, weil ich mir gedacht habe, dass der uns möglicherweise weiterhelfen kann. Grundgütiger! Herr Major! In Anbetracht dieser Vergehen verurteile ich Sie zu zehn Jahren Streifendienst in … ja, ganz genau, in Kitzbühel! Nein, Herr Richter, nein, bitte, alles, nur das nicht!
Ohne wirklichen Appetit aß er ein Buttercroissant mit Marmelade und trank den Rest des Kaffees. Danach fühlte er sich besser. Zumindest gut genug, um am Revier anrufen zu können. Er ging ins Zimmer, setzte sich aufs Bett und überlegte, was er sagen sollte. In dem Moment, als er die Nummer im Adressbuch gefunden hatte und die Anruftaste drücken wollte, läutete es. Die Kollegen, wie praktisch.
„Herr Major“, hörte er Walch mit ernster Stimme, „Sie sollten so schnell wie möglich nach Kitzbühel kommen … Der Altbürgermeister … Kranz … Er hat sich in der Zelle erhängt.“
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Während sie über die Adria flogen, dachte Schäfer darüber nach, wie es wäre abzustürzen; dann mit ein paar netten Menschen – vorrangig netten Frauen – auf einer Insel zu stranden und dort zumindest ein paar Monate lang unentdeckt zu bleiben. Fisch, frische Früchte und beizeiten ein gegrillter Wildhase, davon konnte man sich gut ernähren. Untertags würden sie einfache Hütten aus Bambus und Treibholz bauen; am Abend in ungewohnter Eintracht am Feuer sitzen, sich Geschichten aus ihrem früheren Leben erzählen, die je nach Bedeutsamkeit nach einem kurzen Gelächter vergessen waren – Papierstaus in Druckern zum Beispiel – oder Generationen später als heroische Ursprungslegenden von Großvater zu Enkel weitergegeben würden; Schäfers Vergangenheit als untadeliger Hüter der Gebote fiel natürlich in diese Kategorie. Als er gerade dabei war, ein kompliziertes oberirdisches Kanalsystem zur Bewässerung der Gärten anzulegen, erschütterte eine heftige Turbulenz das Flugzeug und ließ seine Fantasie mit einem Schlag zerplatzen. Er saß zusammengekauert in seinem Stuhl, das Gewicht auf die linke Seite verlagert, um seine Hüftschmerzen weniger zu spüren, und dachte über sein weiteres Vorgehen nach. Der Innenminister hatte ein Sonderermittlungsteam zusammenstellen lassen, das auf dem Weg nach Kitzbühel war. Kamp drückte sicher gerade eine blutdrucksenkende Pille nach der anderen aus einer silbernen Blisterverpackung und Bergmann saß wahrscheinlich schon Probe auf Schäfers Sessel. Wenn er wenigstens noch ein paar Tage freie Hand hätte, könnte er vielleicht mit dem Anwalt reden; ihm die Wichtigkeit des Anliegens darlegen; schließlich ging es um Gerechtigkeit, der sie sich beide verschrieben hatten; und ihn überzeugen, das Grundstück doch noch umgraben zu lassen. Natürlich, Herr Major … warten Sie, ich habe ohnehin noch einen Bagger in der Garage stehen, den man mit dem B-Führerschein bedienen darf, den haben Sie doch, oder? … dann können Sie sich meinen englischen Rasen ja gleich selbst vornehmen … Die Sirenen? … Nein, das hat doch nichts mit Ihnen zu tun, ruhen Sie sich erstmal aus, Schäfer, ganz ruhig bleiben, das wird schon wieder … Ja, meine Herren, das ist er, ich denke, dass Sie durchaus von dieser Spezialjacke Gebrauch machen sollten, der Major ist ein wenig, wie soll ich sagen … derangiert. Schäfer steckte in der Klemme. Und er konnte sich niemanden vorstellen, der ihm heraushelfen würde. Die Maschine war pünktlich und das Gepäckband gab ihm auch keine weitere Nachdenkpause. Typisch Deutschland.
Als er in die Empfangshalle kam, erwarteten ihn zwei bekannte Gesichter: Bruckner und Havelka, Kollegen aus Wien, die offenbar die Vorhut der Sonderkommission bildeten. Eigentlich waren die beiden ihm sympathisch. Und an ihrer verlegenen Begrüßung glaubte er zu erkennen, dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Er hatte lange keinen guten Ruf im Revier gehabt – doch nachdem sich seine Kollegen mit seinen Launen und vor allem mit seinen Erfolgen abgefunden hatten, wurde er angenommen, wie man einen zugelaufenen Mischlingshund aufnimmt,
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