Schäfers Qualen
Schäfer blieb ungerührt. Ein Schädel, Oberschenkelknochen, ein Becken, Rippen, verstreute Wirbel – er hatte diesen Augenblick vor sich gesehen, hatte ihn herbeigesehnt … und jetzt? Ja, die Reste einer Existenz. Radner, wie er zu wissen glaubte. Der Vater des Mörders, wenn er sich nicht von Grund auf irrte. Der Geliebte von Monika Preminger. Er bückte sich und hob einen Knochen auf, was hinter ihm ein leises Murren auslöste, das aber gleich wieder verstummte. Wem stand die Beute denn zu, wenn nicht ihm? Er ließ sich von einem Kollegen der Spurensicherung ein Plastiksäckchen geben, ließ den Knochen hineinfallen und drückte den Verschluss zu. Man hörte ein Folgetonhorn, das immer lauter wurde, bis sie einen schwarzen Audi mit aufgesetztem Blaulicht in der Einfahrt halten sahen. Die Tür auf der Beifahrerseite öffnete sich, Reinisch stieg aus. Er sah in den Himmel und griff noch einmal ins Wageninnere, um einen Regenschirm herauszuholen. Schäfer hätte es gern vermieden, ihn zu treffen. Er wusste, dass Reinisch eine Niederlage nicht wahrhaben konnte und an einem Sachverhalt, wie er nun vorlag, wie an einem Zauberwürfel herumdrehen konnte, bis er selbst – und meistens auch viele andere – der Meinung war, dass er allein dieses Kunststück vollbracht hatte. Diesem Federraub stand Schäfer relativ gleichgültig gegenüber. Was jedoch an seinen Nerven zehrte, war der rhetorische Weg, den Reinisch dorthin nahm.
„Na, da haben wir ja noch mal Glück gehabt“, tönte der Staatsanwalt, während er auf sie zukam. „Gut, dann stehen wir mal nicht nutzlos herum und bringen die Dinge ins Laufen“, stellte er sich zwischen die Beamten und klatschte erwartungsgemäß in die Hände.
„Wie gehen wir weiter vor?“, ließ sich Schäfer zumindest eine kleine Spitze nicht nehmen.
„Na, das muss ich Ihnen doch wirklich nicht sagen, oder, Major Schäfer?“, erwiderte Reinisch zackig.
„Ich würde mich gern zuvor noch mit den Kollegen Bruckner und Havelka absprechen“, sagte Schäfer und sah die beiden verschwörerisch an.
„Na dann, machen Sie mal.“ Reinisch war etwas aus dem Konzept gebracht. „Morgen Mittag erwarte ich mir ein klares Konzeptpapier über das weitere Vorgehen. Wir können uns jetzt keine weiteren Verzögerungen erlauben, wie Sie mir sicher zustimmen werden. Sobald die Identität des Toten geklärt ist, werden wir …“
„Das dürfte nicht ganz so einfach sein“, unterbrach Bruckner den Staatsanwalt zu Schäfers Erstaunen.
„Wieso das denn?“, fragte Reinisch nervös, „laut den Schlussfolgerungen von Major Schäfer und Ihnen können wir doch davon ausgehen, dass dieser RAF-Mann, dieser …“
„Radner … ja, davon können wir ausgehen. Aber bei unseren Ermittlungen haben wir keine lebenden Verwandten finden können. Radner war ein Einzelkind, seine Eltern sind tot. Wir müssten also die Mutter exhumieren. Da wäre uns sehr geholfen, wenn Sie mit Ihren Kollegen in München Kontakt aufnehmen könnten.“
„Ja“, war Reinisch nun endgültig in die Falle getappt, „das werde ich, da setz ich morgen sofort jemanden drauf an.“
„Morgen oder heute?“, fragte Havelka.
„Was?“, wandte sich der Staatsanwalt dem Polizisten zu.
„Ähm, Sie haben gesagt, dass Sie das Konzeptpapier morgen wollen … aber es ist jetzt schon nach Mitternacht und …“
„Sie sind ein kleiner Scherzkeks, oder?“, fuhr Reinisch Havelka an, der jedoch nicht den Eindruck machte, als hätte er sich einen Witz erlauben wollen.
„Nun denn, meine Herren“, sagte der Staatsanwalt, nachdem er Havelka wohl als unterbelichtet eingeschätzt hatte, „weiter im Takt und bis morgen in alter Frische.“
Wie alle anderen hatte auch Schäfer ein „Heute“ auf der Zunge, doch da wohl keiner Lust darauf hatte, dem Staatsanwalt noch länger zuzuhören, geschweige denn, sich ihn zum Feind zu machen, nahm sich niemand diese Freiheit. Schäfer klatschte verhalten in die Hände und bat Bruckner und Havelka zu einem der umstehenden Kleinbusse.
„Großartig, Havelka.“ Schäfer lachte und setzte sich in die hintere Sitzreihe. „Heute oder morgen. Dafür schulde ich Ihnen eine Kiste Bier.“
„Darauf komme ich zurück“, erwiderte Havelka zufrieden und setzte sich eine Reihe vor Schäfer in den Bus. Bruckner blieb vor dem Wagen stehen und zündete sich eine Zigarette an. „Wie machen wir jetzt wirklich weiter?“, fragte er in den Bus hinein.
„Routiniert … DNA-Analyse der Knochen, Abgleich mit dem
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