Schängels Schatten
Spur, auf die es ankam. Warum hatte er das eigentlich nicht getan? Weil ihn Anita davon abgelenkt hatte. Mit dem Zeichen auf dem Stadtplan und dem Zettel, der ihn nach Oberwerth gelockt hatte, hatte sie ihn von der einzig richtigen Strategie abgebracht.
Aber vielleicht war es ja noch nicht zu spät. Schau doch mal genau hin, sagte er sich.
Die Metallteile lagen in einem wirren Durcheinander auf einem Platz, der nicht asphaltiert war, sondern aus festgestampftem Lehm zu bestehen schien. Zumindest wirkte es so. Gebäude waren keine zu sehen, dafür gab es rechts und links ein paar dürre Bäume. Im Hintergrund schien so etwas wie ein hoher Zaun das Gelände abzugrenzen. Man konnte ein paar Häuser erahnen, die sich sehr weit hinten befanden. Es waren eigentlich nur dunkle Flächen. Bebauung. Welcher Art auch immer.
Mike konzentrierte sich auf die seitlichen Regionen des Bildes. Rechts war, ziemlich groß, Ramann zu sehen, der in die Kamera sah und mit ausgestreckter Hand auf den Schrottberg deutete. Auf der anderen Seite bildeten eine Birke und ein paar Büsche ein undurchdringliches verwirrendes Muster.
Mike nahm dieses Geäst in Augenschein. Es kam ihm so vor, als sei dahinter etwas Längliches zu sehen – etwas, das gerade nach oben ragte und oben etwas dunkler zu werden schien. Der Computerausdruck war sehr grob, und die minimalen Schatten, die Mike zu erkennen glaubte, waren kaum auseinander zu halten. Er stand auf und sah zum Telefon. Ob ihm das Hotel nachts um halb vier eine Lupe zur Verfügung stellen konnte?
Dann kam ihm eine bessere Idee. Wenn der Ausdruck so schlecht war, musste man eben einen Blick auf das Original werfen.
Mike zog sich Hose und T-Shirt an, schlüpfte barfuß in seine Schuhe und fuhr hinunter in die Lobby.
Ein Mann saß einsam hinter der Rezeption, Mike nickte ihm zu und ging an den Computer, von dem aus er die Mail an Nair geschrieben hatte.
Innerhalb von Sekunden hatte er Nairs Seite aufgerufen. Mike klickte auf den Link »German Corner« und ließ die Seite abwärts rollen, bis er bei dem Foto angekommen war.
Die Qualität auf dem Bildschirm war deutlich besser. Mike konnte gut die Dächer im Hintergrund erkennen. Die Tatsache, dass es sich um ein Farbfoto handelte, sorgte für noch mehr Tiefe. Mike sah das Blau des Himmels, das Ocker des Lehmbodens und die grünlich wirkenden Metallteile.
Er konzentrierte sich auf die Stelle am linken Bildrand und versuchte, etwas hinter den verzweigten Büschen zu erkennen. Diesmal war es nicht besonders schwierig. Es war sogar sehr deutlich. Trotzdem traute Mike seinen Augen nicht. Er brauchte jemanden, der ihm das hier bestätigte.
»Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?«, fragte er den Mann hinter der Rezeption.
»Ja gern.« Der Mann war jung, höchstens dreißig, und er setzte sogleich ein diensteifriges Lächeln auf.
»Für was würden Sie das hier halten?« Mike deutete auf den Bildschirm.
Der junge Mann kam hinter dem Tresen hervor und sah sich das Bild an.
»Ein Schrotthaufen.«
»Ganz genau. Und haben Sie eine Ahnung, was das hier sein könnte?«
Der Mann beugte den Kopf näher an den Bildschirm. Mike tippte mit dem Finger auf das Glas des Monitors, genau an der Stelle, wo das aufragende Gebilde sichtbar wurde.
»Ich finde, das sieht wie eine Rakete aus«, sagte Mike. »Gibt’s hier so was in der Nähe?«
Der Mann zuckte mit den Achseln. »Vielleicht auf einem Kasernengelände. Aber glauben Sie wirklich, dass das eine Rakete ist?«
»Was sonst?«
»Eine Rakete wäre doch weiß. Das Ding hier ist oben schwarz. Wissen Sie, was ich eher glaube?«
»Was?«
»Es ist eine Kirche.«
Mike nickte. Natürlich! Vor lauter Nachdenken über die Waffengeschäfte hatte er das Naheliegende übersehen. »Sie wissen nicht zufällig, wo sich dieser Kirchturm befindet?«, fragte er.
»Nein, tut mir Leid. Soll der denn in Koblenz sein?«
»Das weiß ich nicht.«
Um Viertel vor vier klingelte das Telefon auf Mikes Zimmer. »Alles klar, ich bin wach«, rief er in den Hörer und legte wieder auf.
Er hatte den jungen Mann gebeten, ihn nach anderthalb Stunden zu wecken, und Mike war in dieser kurzen Zeit tatsächlich wieder eingedöst. So wach er vorhin gewesen war, so zerschlagen fühlte er sich jetzt.
Er zwang sich aufzustehen, zog sich an und ging hinunter. Zehn Minuten später war er auf der anderen Rheinseite.
Während er an der Bundesstraße entlang zum Felsenweg ging, fragte er sich immer wieder, ob Anita tatsächlich kommen
Weitere Kostenlose Bücher