Schängels Schatten
Kopf.
»Entschuldigung«, sagte Mike und zeigte auf das Fernglas, das auf der Brust des Vaters baumelte. Der Mann lächelte sofort, als Mike ihn angesprochen hatte. Der Trupp stoppte.
»Darf ich?«, fragte Mike, obwohl er sicher war, dass der Japaner nicht die Worte, sondern eher die Geste verstehen würde.
»Möchten Sie das Fernglas ausleihen?«, fragte der Mann freundlich in akzentfreiem Deutsch. »Aber bitte sehr.«
Mike staunte. »Vielen Dank.« Er hielt das Glas an die Augen und musterte den Felsen.
»Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf«, sagte der Japaner. »Oben gibt es eine sehr viel schönere Aussicht zu bewundern.«
»Ich bin mehr an dem Felsen hier interessiert«, sagte Mike und folgte den spitzen Steinkanten, die er gerade ins Blickfeld bekommen hatte.
In dem Artikel hatte es geheißen, Carola habe ihre Partie ziemlich schnell abgebrochen. Sie war bei weitem nicht ganz hinaufgeklettert. Wahrscheinlich hatte sie noch nicht mal die Hälfte geschafft. Und der untere Teil war gar nicht so schwer zu bewältigen …
Mike blieb mit dem Ausschnitt des Fernglases wieder an dem schwarzen Fleck hängen, der sich genau in der Mitte einer kleinen aufstrebenden Kante befand. Der Stein hatte die Form einer spitzen Kapuze. Das dunkle Etwas verlieh ihm etwas Unheimliches.
Er gab dem Japaner das Fernglas zurück und bedankte sich. Er lehnte sich an die Mauer, während die Familie im Gleichschritt hinter der Biegung am Pagenhaus verschwand.
Der Weg war wieder leer. Hinter der Begrenzungsmauer rauschte der Lärm der Stadt. Mike war ganz allein mit dem Versteck. Keine Anita tauchte auf, und auch sonst niemand. Und das Geld war vielleicht zum Greifen nah.
Vor ihm strebte der Fels in schrägen Falten nach oben. Immer wieder wuchs Grünzeug dazwischen. Man konnte durchaus Halt finden, um nach oben zu kommen. Wenn man es nicht gerade darauf abgesehen hatte, bis zur Festung hinaufzukommen, war das sicher gar nicht so schwer.
Jedenfalls nicht im Vergleich dazu, auf das Denkmal am Deutschen Eck zu klettern. Zumindest kam es ihm von hier unten aus so vor.
Mike suchte mit dem bloßen Auge die kleine Höhle, die er mit dem Fernglas entdeckt hatte. Wie hoch mochte sie liegen? Zwanzig Meter? Dreißig Meter?
Zwanzig, dreißig Meter, die ihn von einer Million Dollar trennten.
Er wanderte ein wenig das Sträßchen auf und ab. Er trug wieder seine weiße Hose. Nicht gerade ideal. Dann hatte er genug von seiner Unentschlossenheit.
Er stellte sich an die Felswand und holte tief Luft.
*
Er muss warten, bis es dunkel ist. Vorher hat es keinen Sinn, nach dem Kasten zu suchen. Aber er ist gut vorbereitet.
Diesmal wird er nicht mit dem Taxi fahren. Er hat in der Nähe des Bahnhofs einen Wagen gemietet, den er bis morgen benutzen wird. Niemand wird auf ihn aufmerksam werden.
Eine Zeit lang hat ihn die Frage beschäftigt, ob der Taxifahrer ihn mit der Zerstörung des Krans in Verbindung bringen wird. Ihm muss es doch merkwürdig vorgekommen sein, dass er mitten auf der Strecke aussteigen wollte.
Er beruhigt sich. Nichts kann geschehen. Niemand weiß, wo er wohnt. Niemand kennt seine Personalien. Nur die Leute von der Autovermietung. Und die können keine Verbindung zu der Sache mit dem Kran herstellen.
Er liegt still auf dem Bett und wartet auf die Dunkelheit.
*
Die Felswand nur wenige Zentimeter vor dem Gesicht, suchte Mike vorsichtig Halt. Wie hoch er schon gekommen war, wusste er nicht. Nicht runtersehen, sagte er sich immer wieder.
Er konnte sich ganz gut an den Efeupflanzen festhalten, deren Wurzeln sich erstaunlich fest in das Gestein hineingearbeitet hatten. Er zog das rechte Bein nach und hörte, wie weiter unten irgendetwas zu bröckeln begann. Ein feiner Gesteinsregen rauschte durch die Blätter weiter unten, gefolgt von einem dumpfen Kollern.
Mike verharrte und verfolgte, wie lange der Brocken, der sich gerade gelöst hatte, nach unten brauchte. Es war verdammt lang.
Er sah nach oben. Über ihm wuchs helles Gras von einem Vorsprung herab. Er tastete zwischen die Halme und hatte plötzlich ein ganzes Büschel samt Wurzeln in der Hand. Er ließ es los, und raschelnd fand es seinen Weg nach unten.
Vorsichtig tastete Mike mit dem Fuß die Wand ab und fand eine Möglichkeit zum Abstützen.
Er griff weiter in den Vorsprung hinein, aber auch weiter hinten war nichts als weiches Gras. Mike war schweißgebadet; in seinen Augen brannte es. Er unterdrückte das Bedürfnis, sich über das Gesicht zu wischen. Stück
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