Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schärfentiefe

Titel: Schärfentiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: I Mayer-Zach
Vom Netzwerk:
und jenes Prestige in Aussicht stellte, von dem sie – so gut kannte der Spam-Absender sie anscheinend – schon immer geträumt hatte. Alles natürlich ohne Klausuren, Klassen, Bücher oder Prüfungen. Warum tat sich eigentlich noch jemand die jahrelange Mühe an, eine Dissertation auf herkömmlichem Weg zu erlangen, wenn doch ein Anruf und einige tausend Euro genügten, um einen Doktortitelzu erwerben? Aber das war jetzt alles unwichtig. Fakt war, es gab keine Informationen zum Foto und zu der blonden Frau. Paula war enttäuscht. Tief in ihrem Inneren hatte sie sich also doch mehr erhofft, als sie sich eingestehen wollte.
    „Du bist ja lächerlich!“, schalt sie sich selbst. Hatte sie allen Ernstes erwartet, dass gestern Abend Damen und Herren älteren Semesters gerade eines jener vier Suchforen besuchen und die Frau wiedererkennen würden? Was war sie doch verbissen, was dieses vermaledeite Foto anging. Warum machte sie überhaupt so viel Aufhebens darum und hoffte sogar schon auf die Mithilfe des globalen Dorfs? Sie konnte es sich nicht erklären. Aber da war etwas, das ihr sagte, dass sie genau richtig lag. Paula tat das für sie einzig Vernünftige in einer solchen Situation: Sie schaltete den Computer aus. Sie nahm sich fest vor, ihn über die Weihnachtsfeiertage auch nicht mehr einzuschalten und keine Minute mehr an Stefan Urban und die Biografie zu verschwenden. Stattdessen wollte sie sich vorstellen, wie schön das Wiedersehen mit Markus sein würde.
    Doch bevor sie das tat, rief sie noch bei der Hausverwaltung an, um nachzufragen, ob es irgendwelche Unklarheiten in Bezug auf ihre Wohnung gab. Doch die Dame am Telefon versicherte ihr, dass alles in bester Ordnung sei und derzeit auch keine Mitarbeiter unterwegs seien. Sicher habe es sich bei dem Vorfall nur um ein Missverständnis gehandelt.
    Hauptsache erledigt und keine Betriebskosten-Nachzahlung, dachte Paula, zog den Daunenmantel und die gefütterten Stiefel an, stopfte den tragbaren MP3-Player in die Tasche, drückte auf „play“ und fort war sie. Mit Merengue- und Salsa-Rhythmen im Ohr stapfte sie durch den Schnee. Die Parks, die sie durchqueren musste, um ihr Ziel zu erreichen, waren nicht geräumt. Gut so! Besser idyllisch und auf eigene Gefahr unterwegs sein als sicher in geräumtem Matsch. Das Ziel war die „Onyx-Bar“, in der sie einen Cappuccino trinken wollte.
    Nachdem sie den Volksgarten durchquert hatte, bummelte sie über den Helden- und den Michaelerplatz. Hier herrschte reges Treiben. Offenbar war den letzten Weihnachtsmuffeln eingefallen, dass sie noch Geschenke besorgen mussten. Paula gab den drei Bettlern, denen sie begegnete, jeweils einen Euro und wünschte ihnen „Frohe Weihnachten“. Auch wenn sie wusste, dass es sich dabei wahrscheinlich um Mitglieder einer der organisierten Bettlerbanden handelte, die extra aus dem Osten anreisten, um die zur Weihnachtszeit sentimentalen Käuferseelen abzuzocken.
    Sie war wieder bester Laune, und es gab viele Gründe dafür: Es ging ihr gut, mit Markus lief alles wunderbar, sie hatte keine Sorgen, sie fühlte sich gesund und munter, es war Weihnachten. Gloria Estefan sang ihr ins Ohr: „… hacerte tan feliz que te enamores más de mi …“ – „… dass sie ihn so glücklich machen würde, dass er sich immer mehr in sie verlieben würde …“ Der Cappuccino und der erhebende Ausblick über die Dächer von Wien würden diesem schönen Tag die Krone aufsetzen.
    So war es mit den positiven Gedanken im Gehirn. Hegte und pflegte man sie gebührend, kümmerte man sich regelmäßig darum, dem eigenen Kopf Gutes zuzuführen, dann dankte er es einem mit einem Hochgefühl, das einem schwebenden Rausch gleichkam. Aber wehe, man verabsäumte die Pflege oder stellte die Filter falsch ein: Das menschliche Hirn neigte nun einmal zu Chaos und negativen Gedanken, wenn es sich selbst überlassen wurde. Und wieder fielen Paula die Ratschläge eines Ernährungsberaters ein: Achte darauf, was du dir zuführst. Das galt wohl für Kulinarisches ebenso wie für jede Botschaft, die in die kleinen grauen Zellen Einzug hielt. Derart in Gedanken versunken, bemerkte sie erst spät, dass ihr Handy in der Manteltasche vibrierte. Sie erwischte das Telefon im letzten Moment und drückte auf die Annahmetaste.
    Paula hatte einige Mühe, die Kopfhörer des MP3-Players herunterzunehmen und das Handy so zu halten, dass sie den Anrufer gut verstand.
    „Frau Ender? Da spricht Gerlinde Wagner. Ich wollte nur nachfragen,

Weitere Kostenlose Bücher