Schärfentiefe
blieb für sie und ihr verdammtes Institut das Aushängeschild, während ich nur eine unwichtige Assistentin war.“
„Darum haben Sie alles für sich behalten? Haben Sie nie daran gedacht, dass dadurch auch andere zu Schaden kommen könnten?“
Angst war eine schlimme Sache, denn sie lähmte.
„Doch und Sie können mir glauben, ich habe lange genug mit mir gekämpft und gehadert. Aber was hätte es für einen Sinn gehabt, nachdem ich von vornherein wusste, dass ich den Kürzeren ziehen würde?“
„Das heißt, Sie hätten sich, solange er lebte, nicht zu Wort gemeldet. Erst jetzt, wo er tot ist und Ihnen nicht mehr schaden kann, da wollen Sie darüber reden?“
Paula biss sich auf die Zunge und hätte das Gesagte am liebsten zurückgenommen, als sie merkte, wie sehr ihre Worte Gerlinde Wagner trafen.
Es ist meist leicht und immer falsch, über einen Menschen zu richten, solange man nicht selbst in der gleichen Situation ist oder war. Paula hatte schon zu oft vorschnell geurteilt oder sich logische Konstrukte zurechtgelegt, die ihr helfen sollten, Unverständliches zu erklären.
Paula entschuldigte sich bei Gerlinde Wagner für die dumme Bemerkung.
„Das ist schon in Ordnung. Und so falsch ist es ja nicht, was Sie sagten. Heute frage ich mich auch, warum ich nicht schon längst etwas unternommen habe. Nur: Dieses Mal kommt die Reue zu spät, und ein zweites Mal wird es hoffentlich nicht geben. Aber eigentlich wollte ich Ihnen nur erzählen, warum ich glaube, dass Urban einem Mord zum Opfer gefallen ist.“
Paula nickte.
„Motive könnte es genug gegeben haben. Aber wie sollten wir das jemals herausfinden? Die Polizei hat die Leiche untersucht und freigegeben, nachdem sie keinerlei Anzeichen von Fremdeinwirkung festgestellt hat. Stellt sich die Frage, was verdächtig daran sein soll, wenn ein älterer Mann bei einem Spaziergang ausrutscht und ertrinkt, weil er nicht schwimmen kann?“
Gerlinde Wagner winkte dem Kellner, dass sie zahlen wollte.
„Weil Urban niemals von sich aus einen längeren Spaziergang entlang einem Fluss gemacht hätte. Nicht nur, weil er Wasser nicht mochte, sondern auch, weil er Probleme mit den Bandscheiben hatte.“
„Was wollen Sie damit sagen?“
„Wenn er niemals freiwillig ein Flussufer entlangspaziert wäre, bleibt eigentlich nur die Möglichkeit, dass er dorthin gebracht oder gelockt wurde.“
Das klang einleuchtend.
„Und wer könnte es gewesen sein?“
„Es gab sicher viele Menschen, die ihn gehasst haben – beruflich und privat, Männer und Frauen.“
Der Kellner kam und Wagner zahlte. Paula bestellte einen zweiten Cappuccino.
„Ich muss jetzt gehen. Wenn alles klappt, bekomme ich ein schönes Weihnachtsgeschenk in Form eines neuen Jobs. Ein großes Fotostudio sucht Unterstützung, und ich habe um drei Uhr das Vorstellungsgespräch. Halten Sie mir die Daumen.“ Wagner reichte Paula die Hand und drückte sie kräftig.
Sie würde den Job bekommen, da war sich Paula sicher. Weniger sicher war sie sich, ob sie überhaupt wissen wollte, ob Urban ermordet worden war oder nicht. Fest stand, dass er kein besonders guter Mensch gewesen war. Ihr fiel eine Parabel ein, die sie vor sehr langer Zeit in der Schule gelesen und die sie schwer beeindruckt hatte: Ein Mann wurde für eineTat angeklagt, die er nicht begangen hatte. Auf Geheiß des Richters musste er seine Hand in die Mundöffnung eines Steingesichts stecken. Wäre er unschuldig, so der Richter, würde er heil davonkommen, andernfalls würde er sterben. Obwohl der Mann die Tat, für die er angeklagt war, nicht begangen hatte, wurde er, als er die Hand in das Loch steckte, von einem Skorpion gestochen, der sich zufällig in der Öffnung befand. Der Mann starb. Die Frage, die sich nun stellte, war nicht, warum er für eine Tat bestraft wurde, die er nicht begangen hatte. Sondern vielmehr, für welche böse Tat in seinem Leben er diese Strafe erhielt.
2.
Der Himmel war grau, und es hatte zu nieseln begonnen. Das Wetter spielte wieder einmal verrückt. Wenn es so weiterregnete, würde sich der Schnee bald in unangenehme Nässe auflösen. Paula gefiel es zwar, dass sich in diesen Breiten die Jahreszeiten abwechselten, doch es nervte sie, wenn sie das innerhalb eines Tages taten.
Unschlüssig ging sie nach Hause. Die Menschenmassen, die von oben so putzig ausgesehen hatten, drängten sich nun erbarmungslos durch die Fußgängerzone. „Kuschelatmosphäre“ war angesagt, unfreiwillig versteht sich. Die
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