Schärfentiefe
Welt zu sein und sein Wissen nicht nur aus Schulbüchern zu haben.
„Das war eine erfolgreiche Pianistin in den frühen sechziger Jahren. Eine bejubelte Künstlerin, aber sie soll drogenabhängig gewesen sein, munkelte man. Angeblich ist sie irgendwo in Italien in einem Hotelzimmer an Herzversagen gestorben.“
„Das war nicht in Italien, sondern in Nizza“, korrigierte Paula aufsässig, „und wie kommst du darauf, dass es Herzversagen war?“
„Nun, in einigen Zeitungen gab es eine Zeit lang sehr viele Artikel über sie. Irgendein Skandal. Ich weiß auch nicht mehr genau.“
Paula wurde stutzig. Tante Irma, ein Skandal, und sie wollte nichts Genaueres mehr davon wissen?
„Was für ein Skandal?“, hakte Paula nach. „Drogen oder was?“
„Ja, über das haben sie auch geschrieben. Aber da waren dann auch noch so einige Geschichten. Nichts Schönes. Ich weiß nicht mehr so genau“, wand sich die alte Dame.
„Tante Irma, bitte, versuch dich zu erinnern. Eine Männergeschichte, ein Mord oder was?“ Paula ließ nicht locker. Irma sah Hilfe suchend um sich.
„Paula, bitte! Tante Irma möchte offenbar nicht darüber reden, also lass es gut sein!“, kam Kurt der Frau zu Hilfe. „Elsa Tin soll international sehr berühmt gewesen sein?“
Die alte Dame warf ihm einen dankbaren Blick zu. Auch Zigeuner konnten manchmal gute Menschen sein. Sie nahm den rettenden Faden auf und erzählte belanglose Geschichten über die Pianistin. Nach und nach schien sie sich wohler zu fühlen, denn sie schlug in ihren Erzählungen wieder einen zunehmend sarkastischen Ton an und ätzte schließlich in gewohnter Manier vor sich hin: über die mangelnde Begabung der Pianistin, ihren schlechten Geschmack in Sachen Bekleidung und Männer, den liederlichen Lebenswandel, Drogen und Partys.
Nichts deutete mehr darauf hin, dass es im Leben der Elsa Tin etwas gegeben hatte, das sogar Tante Irmas böses Mundwerk für kurze Zeit zum Verstummen brachte.
Gegen zehn Uhr bestellte Paulas Mutter ein Taxi, das den Weihnachtsgast nach Hause bringen sollte. Sie verabschiedetensich von der alten Dame, und als sie endlich weg war, atmeten alle erleichtert auf.
„Kommt, lasst uns Weihnachten feiern“, sagte Edgar und schob die drei vor sich her in Richtung Wohnzimmer, wo sie es sich auf den beiden Sofas bequem machten. Er selbst zwängte sich hinter die Bar und kreierte einen seiner berühmten Drinks.
In diesem Moment fühlte sich Paula wieder wohl. Es wäre doch gelacht, wenn sie nicht ohne Markus klarkäme, dachte sie. Zumal er so oder so nicht bei ihr gewesen wäre. Es war bitter, dass sie so von ihm hintergangen worden war, vor allem, weil es für sie überhaupt keinen Sinn ergab. Aber besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende hätte ihr Vater gesagt, der gerade seinen „Christmas Special“ mixte: Wodka, Grenadine und Zitronenstückchen, dann das Ganze mit Sekt aufgießen. Sie stießen auf ein frohes Weihnachtsfest an und ließen sich das prickelnde Getränk schmecken.
Später beschlossen Kurt und Paula anstatt nach Wien zurückzufahren, das Angebot der Eltern anzunehmen und im Wohnzimmer zu übernachten. Morgen wollten sie bei einem gemütlichen Mittagessen ohne Tante Irma den Christtag ausklingen lassen.
Die Beleuchtung des Weihnachtsbaumes tauchte den Raum in goldfarbenes Licht. Es war schön, hier in warme Decken gekuschelt zu liegen. Auch wenn es der schwule Kurt war, der neben ihr lag und nicht ihr Traummann Markus. Aber was sollte sie mit einem Traummann, der mit einer anderen verheiratet war? Ihre Eltern hatten sie zwar immer zum Teilen erzogen, aber für den Lebenspartner sollte das denn doch nicht gelten.
Draußen im Garten und auf den angrenzenden Feldern lag Schnee. Eine sanfte, einsame Landschaft, die nur da und dort von Spuren durchzogen wurde, die von Katzen-, Hasen- oderVogelfüßen stammten. Der Regen war nicht bis hierhergekommen und hatte nicht, so wie in Wien, den Schnee weggespült. Der Traum von weißen Weihnachten hatte sich für Paula auf seine eigene Weise erfüllt.
Vierzehn
Nach einem exzellenten Mittagessen – es gab Weinschaumsuppe, gefüllte Pute mit Preiselbeeren und als süßen Abschluss Schneebällchen auf Schokocreme – und danach einem dringend notwendigen ausgedehnten Spaziergang entlang der Uferpromenade, fuhren Paula und Kurt wieder Richtung Wien. Den Brief von Frieda Dietl hatte ihr Eleonora noch im letzten Moment zugesteckt. Die letzten beiden Tage waren abwechslungsreich
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