Schärfentiefe
seine Herkunft.“ Er war ein Star, deshalb verzieh sie ihm seine jüdischen Wurzeln.
Beim anschließenden Abendessen zwängte sie sich zwischen Paulas Eltern.
Während der Suppe plauderten sie über eine Reise, die Irma im Sommer mit einer katholischen Jugendgruppe nach Lourdes gemacht hatte. Begeistert erzählte sie, dass sie jeden Tag um fünf Uhr aufgestanden und singend durch die Gassen gezogen wären. Sie hatten täglich an mehreren Messen teilgenommen und waren abends beim Fackelzug mitgegangen, der bei der Kirche geendet hatte.
Dazwischen sahen sie sich Filme über die heilige Bernadette an, erlebten das Wunder von Lourdes – das täglich zu fixen Zeiten für die gläubigen Pilger inszeniert wurde – oder meditierten bei Panflötenmusik in den modernen Kirchen.
Paula fiel ein bekannter Medienguru ein, der Disneyland und den Wallfahrtsort Lourdes verglichen hatte und zu dem Ergebnis gekommen war, dass beide verblüffend ähnlich aufgebaut waren und funktionierten. Was in Disneyland das Schloss Cinderellas war, zu dem man über die Main Street America gelangte, war in Lourdes die Basilika der unbefleckten Empfängnis, die man über die Esplanade der Heiligtümer erreichte. Zur Erinnerung an Disneyland kauften dieBesucher Kappen und T-Shirts mit Micky-Maus-Motiven, in Lourdes wurden Plastikflaschen mit Wunderwasser und betende Madonnen in allen Größen offeriert, die reißenden Absatz fanden.
„… da waren junge Leute dabei, alle fromm und höflich. Die haben sich rührend um uns Alte gekümmert“, setzte sie noch ein rhetorisches Obershäubchen drauf.
Eleonora und Edgar signalisierten Paula mit Blicken, nicht auf Tante Irmas ätzende Bemerkungen einzugehen.
„Weißt du“, sagte Irma zu Paulas Mutter, „das Traurigste am Älterwerden ist, dass plötzlich alles, was man erlebt und getan hat, von den meisten Jungen heruntergemacht wird.“
Wieder sah sie Paula an und fuhr, während sie mit dem Essbesteck herumfuchtelte, fort: „Dabei haben wir Sachen erlebt, die ihr euch nicht einmal vorstellen könnt. Ihr braucht heute Abenteuerurlaube, damit es euch nicht fad wird. Wir haben den Krieg miterlebt, wir mussten jeden Tag schauen, wie wir überleben konnten. Bevor der Hitler gekommen ist, herrschte eine Armut, die ihr euch nicht einmal vorstellen könnt. Und dann kam er, und es gab Arbeit, tolle Autobahnen hat er gebaut, und meine Mutter bekam zum Muttertag von einem Hitlerjungen eine Blume überreicht. Und dann sind sie ihm alle in den Rücken gefallen …“
Tante Irma stopfte sich ein Stück von der gefüllten Kalbsbrust in den Mund. Ein wenig Sauce lief über ihr Kinn.
Paula kannte diese Phrasen von früher. Das Ärgste für sie war, dass Tante Irma ernsthaft glaubte, was sie sagte.
Jeder am Tisch wusste, dass die Tante kein leichter Fall war. Nichts und niemand würde sie noch ändern oder dazu bringen, ihre Einstellungen zu hinterfragen oder gar zu überdenken. Darum blieben alle stumm, sahen auf die Uhr und hofften, dass sich der Zeiger dadurch schneller in die Kurve legen würde.
Nur Paula hatte keine Lust, ihr dummes Geschwätz zu akzeptieren, auch wenn heute Weihnachten war. Da konnte auch Kurts beruhigendes Tätscheln ihrer Hand unter dem Tisch nichts ausrichten. Sie entzog ihm die Hand, hatte keine Lust, sich abzuregen.
„Ja, ich kenne diese Geschichte. Du hast sie uns schon oft erzählt. Aber wenn mir jemand eine Blume schenkt und sich dann später nachweislich als Mörder entpuppt, dann ist er trotzdem ein mieser Mensch.“
„Klar. Ihr Jungen interessiert euch ja nur für die Gewinner, wer verliert, der wird ignoriert. Wir haben im Guten wie im Bösen zusammengehalten. So etwas nannte man bei uns Disziplin und Loyalität. Das ist etwas, was eurer Generation völlig fremd ist.“
Respekt, Disziplin, Loyalität – Worte, die, von Irma ausgesprochen, einen sehr negativen Beigeschmack erhielten, wenngleich sie für Paula durchaus respektable Werte darstellten.
„Will noch jemand etwas Fleisch?“, versuchte Paulas Mutter abzulenken und warf ihrer Tochter einen flehenden Blick zu.
Um des weihnachtlichen Friedens willen verbiss sich Paula eine Antwort und konzentrierte sich aufs Essen.
„Kannten Sie eigentlich eine Elsa Tin?“ Zigeuner Kurt nutzte die Gesprächspause und hatte endlich eine gute Ablenkung von dem explosiven Thema gefunden.
„Die Elsa Tin, ja, die habe ich gekannt.“ Stolz sah Tante Irma in die Runde. Es hatte doch etwas für sich, schon lange auf dieser
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