Schafkopf
diesem Tag sein Wirtshaus zum ersten Mal seit ihrem Tod wieder geöffnet hatte? »Wer edds in Urlaub fährd, der g'hörd derschlong.« Ein Satz wie ein Beil, danach musste er sich schnäuzen. Die feuchten Augen wischen und sich hinsetzen.
Das Bier im Zug war wässrig und schmeckte nach Dose, die Täler lagen schon im Schatten. Ab Bellinzona war es dunkel, in Zürich, später, dann endlich Nacht.
Das Bier im Zug blieb wässrig-schal.
Behütuns nahm sich das rote Büchlein von Hajo Schrader vor und versuchte, die Handschrift zu entziffern. Lag es am Ruckein des Zuges oder an seiner Müdigkeit und Entspanntheit? Scheinbar ohne Konzentration gelang es ihm fast wie von selbst, sich in die Handschrift einzufinden.
»Man baut sich Gebäude aus Worten. Und hat dann Angst, darin zu leben«, las er.
Und:
»Geradlinige Menschen sind mir suspekt. Denn das Leben ist paradox – es lebt von seinen Widersprüchen.«
Viele kurze Sätze fand er darin.
»Halten will man nur, was schön ist. Weil es schön ist. Aber Halten ist immer Stillstand. Und Stillstand gibt es nicht. Nirgendwo.«
Es schien eine Art Aufzeichnungsbuch für Gedanken zu sein. Vielleicht auch für Beobachtungen? Behütuns blätterte nach hinten. Oder waren es Zitate, Textstellen, die er irgendwo heraus- und sich aufgeschrieben hatte?
»Eine Dohle fällt durchs Geäst wie ein Lappen.«
Einer von vielen Einträgen.
Dann las er von hinten nach vorn. Er wollte ermitteln, nicht schnüffeln. Dieses Heftchen schien private Aufzeichnungen zu enthalten, eine Art Tage-, nein, besser: Gedanken- und Beobachtungsbuch. Behütuns wollte diesen Hajo Schrader nicht ausleuchten, ihm nicht seine Privatheit nehmen. Er wollte seinen Mörder finden. Und dazu musste er ihn befragen. Das konnte er vielleicht mit diesem Heft, ohne jedoch bei ihm herumzuschnüffeln. Sollte dies nötig werden, würde er es sicher tun, ganz klar. Noch aber erschien es Behütuns nicht nötig. Trotzdem blätterte er noch einmal nach vorne. Schlug wahllos eine der Seiten auf. Nur ein einziges Mal noch, er konnte nicht widerstehen.
»Wenn mir das Hinausgehen gelingt, ist es mir eine Belustigung: Es macht mich lustig.«
Und gleich darauf folgend:
»Der zweitschönste Satz über den Winter? ›Lass mich hinausgehen in die Kälte, das Herz zu wärmen.‹«
»Und der schönste? ›Lass uns …‹«
Ja, das war sehr privat. Und schön, musste Behütuns gestehen. Denn es berührte ihn. Doch das war ganz sicher im Winter geschrieben worden, und der war ein halbes Jahr her. Also ganz nach hinten im Heft, zu den letzten Eintragungen, nach vorn in der Zeit.
»Der Falke sitzt auf dem Fahnenmast und frühstückt. Dann fliegt, nein segelt er an mir vorbei wie zum Gruß und pfeilt hinab ins Tal, ab in den Nebel, fort.«
Dann, nach vorn in der Zeit, also danach:
»Die Fahne am Mast ist so schwer, dass es sie ständig herunterzieht. Das viele Wasser des Regens – der Regen setzt die Fahne auf Halbmast.«
Das könnte die Fahne vor der Hütte sein, dachte sich Behütuns. Blau-Rot, die Farben des Tessins.
»Wenn es regnet, habe ich hier nichts zu tun. Nichts. Doch dies ist ein Nichts, das keine Angst macht. Es beruhigt.«
Ja, das war auf der Hütte geschrieben worden. Die nächste Eintragung lautete dann:
»Die sich mit ›Dr.‹ vorstellen, haben es wohl nötig.«
Und dann:
»Das Birkhuhn zeigt sich nicht. Nur seinen – ja was: Gesang? Ich hatte dieses ›Girrr-Girrrr‹ zuvor noch nie gehört und wusste doch sofort! Da gibt es keinen Zweifel.«
Behütuns hatte noch nie ein Birkhuhn gehört, geschweige denn gesehen. Fast war er ein wenig neidisch. Es gab Vögel, die waren für ihn immer mit etwas wie einem Geheimnis umgeben. Vielleicht sollte er auch einmal auf dieser Hütte …
So langsam dämmerte er davon. Tatammtatammmmm – tatammtammmm, machte der Zug, und draußen zogen Seen vorbei. Ich dachte, ich bin in den Bergen … gibt's in der Schweiz doch so viele große Seen? Ich habe keine Ahnung von dem Land … Und auf der Hinfahrt hatte er geschlafen.
»Wie schnell jemand im Nebel verschwindet. Auch mit seinem Geräusch.«
Die Augen fielen ihm beinah schon zu, klappten einfach nach hinten. Doch er las weiter.
»Bei geschlossenen Augen ist das Zirpen der Heuhüpfer wie ein Wogen über die steilen Wiesen.«
Das war auch ganz sicher auf der Hütte geschrieben worden. Also auch das davor. Irgendetwas hatte ihn schlagartig wieder munter gemacht. Er las noch weiter nach hinten:
»Schließe ich
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