Schafkopf
draußen die Augen, um zu lauschen, tue ich das immer talwärts.«
Zu diesem Zeitpunkt war noch schönes Wetter und der Mörder noch nicht da.
Was hatte ihn nur so elektrisiert?
Er las noch einmal, die Eintragungen jetzt chronologisch rückwärts.
Der letzte Eintrag war das Birkhuhn.
Dann, davor, kam das Nichts-zu-tun.
Dann:
»Wie schnell jemand im Nebel verschwindet. Auch mit seinem Geräusch.«
Dann die regennasse Flagge.
Dann:
»Die sich mit ›Dr.‹ vorstellen, haben es nötig.«
Dann der Falke.
Jetzt drehte er die Reihenfolge wieder um, die richtige Chronologie war die:
Der Falke frühstückt am Fahnenmast und verschwindet dann im Nebel. Da wird das Wetter schlecht. Dann erscheint einer und stellt sich mit »Dr.« vor. Ein Eingebildeter, dem Schrader kommt er zumindest komisch vor. Vielleicht auch standesdünkelhaft, zumindest eigenartig. Und ihm deshalb eine Notiz wert. Dann ist das Wetter schlecht: Die Fahne senkt sich, sie zieht es vor Nässeschwere auf Halbmast. Dann geht einer im Nebel davon. Dann regnet es, und er hat nichts zu tun. Er ist allein, hört das Birkhuhn gurren.
Behütuns legte das Heft auf den Sitz neben sich.
Eine Stunde hatte er wohl geschlafen. Das Heftchen war ihm aus der Hand gerutscht, lag vor ihm auf dem Boden. Er nahm es auf und legte es zu seiner Tasche auf den Nebensitz. Der Zug war leer. Dann nahm er sich das Manuskript, das Lugio, der Schweizer Kommissar, ihm gegeben hatte. Das Manuskript aus der Kammer des Hüttenwirts. 240 Seiten lang, mit handschriftlichen Korrekturen. »Raus jetzt!«, stand auf dem Titelblatt. Die Seiten waren angestoßen, fleckig zum Teil und offensichtlich vielfach durchblättert. »Warnung«, stand unten auf dem zweiten Blatt, »Dieses Buch hat keine Handlung. Es schwadroniert, assoziiert, denkt nach, geht kreuz und quer und lebt vom Zorn. Wer das nicht mag – … na ja …«
Und auf der nächsten Seite stand: »Alle Ereignisse, Gesellschaften und Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Sollte dennoch der eine oder andere Ähnlichkeiten mit sich entdecken, ist dies bedauerlich, denn gerade diese Personen sind es – mit Ausnahme weniger – nicht wert, verewigt zu werden.«
Und dann begann der Text: »Aus. Ende. Schluss! Ich höre auf! Verlasse dieses Affenhaus!« Behütuns las mit Interesse. Dies schien eine Abrechnung zu sein, im Frust geschrieben von einem, dem sein Job zwar sehr lange Spaß bereitet hatte, der dann aber auf Ignoranz gestoßen war. Er schrieb von Machenschaften und Intrigen, von Lügen, Rücksichtslosigkeiten, neuen Chefs und immer wieder davon: Hinterhältigkeit und Ignoranz. Asozialem Verhalten. Sozialer Degeneration. Das Manuskript schien sehr authentisch. Das Innenleben eines Unternehmens wurde hier offengelegt, und damit auch die Verlogenheiten und Betrügereien seiner Führung. Die Hauptpersonen hießen Hase, Iltis, Pups. Hase, das war ganz offensichtlich der Schreiber selbst, Iltis und Pups die beiden anderen Hauptpersonen, ganz offensichtlich seine Chefs.
Behütuns bemerkte nicht, wie schnell die Zeit verging. Draußen vor dem Fenster wurde es schon wieder hell, das Allgäu flog vorüber. Hier in Deutschland rauschte der Zug, er ruckelte nicht mehr. Ganz anderes Reisen, dachte Behütuns. Es sind die Dinge, die sich fast unmerklich einschleichen in den Alltag, die vom Fortschreiten der Zeit künden, sinnierte er. Gestern noch tattaammm – tattaammm auf den Schienen, und heute schhhhh … – und trotzdem nicht wirklich schneller. So wie sich damals dieses eine unmerkliche Wort von »Bitte einsteigen, die Türen schließen, Vorsicht bei der Abfahrt!« geändert hat in »Bitte einsteigen, die Türen schließen selbsttätig, Vorsicht bei der Abfahrt!«.
Er ließ sich einen Kaffee kommen. Haarsträubendes stand in dem Manuskript. Behütuns las sich in das Innenleben einer Agentur ein. Saftige Sommernebel lagen draußen über Wiesen und Weiden, und eine frische Sonne schien sie seitlich an. Zuweilen wirkten sie wie golden. Was, dachte sich Behütuns, wenn die hier beschriebenen Gestalten, genannt Herr Iltis und Herr Pups, von dieser Abrechnung etwas erfahren hätten, etwas wussten? Die Fakten klangen hart und waren hart beschrieben in diesem Manuskript. Oder war dies alles nur erfunden, rein fingiert? Behütuns hakte diesen Gedanken ab. So etwas schreibt man nur, wenn man etwas weiß – und das gut. Wo immer Behütuns die Seiten aufschlug, sprachen augenscheinlich begründete Kritik, Empörung, manchmal
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