Schafkopf
Aber ich leide unter Zwangsvorstellungen.«
»Hatte ich befürchtet.«
»Meine Sorge ist aber nicht ganz von der Hand zu weisen. Ich meine, wenn so Zeug auf öffentlich zugänglichen Computern ist.«
»Was soll da passieren?«
»Irgendjemand zeigt es zum Beispiel nicht seinen Enkeln, sondern … was weiß ich … dem Bund der Steuerzahler: So lustig ist der Polizeidienst auf Staatskosten!«
Sie sah ihn amüsiert an. »Du bist einfach ein kleiner Spießer.«
»Natürlich. Hast du gedacht, du könntest mich durch einen Kuss am Ende eines Kreuzwegs davon heilen?« Wallner ging auf »Papierkorb leeren«, wurde noch einmal vom Programm gefragt, ob er das wirklich tun wolle. Ja, wollte er. Die Datei verschwand mit dem schmatzenden Windows-leert-den-Papierkorb-Geräusch.
»Ich nehme an, es existiert noch auf deinem Kamerachip und diversen anderen Datenträgern.«
»Klar. Was denkst du denn?«
»Wie war die Stadtbesichtigung?«
»Interessant«, sagte Vera. Es klang, als ob etwas fehlte. Vera schien mit sich zu kämpfen.
»Ja?«, sagte Wallner.
»Wie ›ja‹?«
»Du willst noch was sagen. Zur Stadtbesichtigung.«
»Ich weiß nicht, ob ich noch was sagen will. Sonst hätte ich’s ja schon gesagt.«
»Es gibt also etwas zu sagen?«
»Möglicherweise.«
»Das heißt ja?«
»Ja.«
»Dann sag’s halt.«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Das ist albern. Du hast längst den point of no return erreicht. Oder glaubst du, ich lass dich hier rausgehen, bevor ich nicht alles erfahren habe? Los, spuck’s aus.«
»Gut. Das ist dann aber deine Verantwortung.«
»Worum geht’s denn? Muss ich mir Sorgen machen?«
Vera drückte einen Knopf an der Unterseite des Bürostuhls, worauf die Rückenlehne mit einem Ruck nach hinten klappte. Vera lag jetzt zurückgelehnt im Stuhl. Sie verschränkte die Arme auf ihrem Bauch und sah Wallner trotzig an.
»Ich hab deinen Großvater gesehen.«
»Nett. Habt ihr geredet?«
»Nein. Ich hab mich nicht getraut, ihn anzusprechen. Er … war nicht alleine.«
Wallner zog eine Augenbraue hoch.
»Er war in Begleitung einer jungen Dame.«
»Die von gestern?«
»Die von gestern.«
»Was hattest du für einen Eindruck? Ich meine, wie … wie sind die beiden miteinander umgegangen?«
»Willst du das wirklich wissen?«
Wallner ließ einen Kugelschreiber durch seine Finger rotieren, klopfte mit dem Taster auf die Schreibunterlage und betrachtete interessiert den Werbeaufdruck mit dem Namenszug eines Waschsalons. Sein Blick wanderte zu Vera. Die saß immer noch mit verschränkten Armen im Bürostuhl und wartete auf Antwort.
»Eigentlich nicht«, sagte Wallner. »Mein Großvater ist erwachsen. Er kann tun und lassen, was er will.«
»Find ich auch«, sagte Vera und sah Wallner spöttisch an.
»Was guckst du so? Glaubst du mir nicht?«
»Kein Wort. Du willst haarklein wissen, was sich heute zwischen deinem Großvater und dem Mädchen abgespielt hat.«
Ja, das wollte Wallner haarklein wissen. Natürlich war das spießig und kleinkariert. Aber vielleicht lief der Großvater geradewegs in sein Unglück. Dann würde sich Wallner Vorwürfe machen, weil er es hätte verhindern können.
Vera erzählte. Wie sie vor einigen Stunden in den nebligen Gassen von Miesbach unterwegs gewesen war. Wie man kaum zwanzig Meter weit sehen konnte, was irgendwie romantisch war und in Vera Bilder von mittelalterlichen Städten wachrief, die unter dem Joch der Pest ächzten und mit beißenden Essenzen ausgeräuchert werden mussten, was vermutlich wenig geholfen, aber einen Beitrag zum gruseligen Gesamtbild des Mittelalters geleistet hat. Wie Vera also aus einer Gasse hinaustritt und die enge Straße hinunterblickt, eine dunkelgrau-verhangene Straße, feucht und mittelalterlich, und von gegenüber flimmert eine Levi’s-Leuchtreklame durch den Dampf, da sieht sie im Gegenlicht, das am Ende der Straße den Marktplatz vermuten lässt, eine hutzelige Gestalt, gebeugt, aber mit dieser gewissen Nonchalance in der Haltung, die dem Charmeur auch im Alter nicht abhandenkommt. Mit anderen Worten: Manfred. Zunächst allein. Aber nicht lange. Sekunden später wird es dunkel neben ihm, jemand kommt aus der Richtung des Marktplatzes, steht schließlich neben dem alten Mann. Die Silhouette zeigt eine junge Frau, Minirock, Chucks und hinuntergerollte Socken, vermutlich über einer Strumpfhose. Das Haar offen, sie fährt sich mehrfach mit der Hand hindurch. Das habe aufregend bis aufreizend gewirkt, sagte Vera. Sie habe
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