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Schalmeienklänge

Schalmeienklänge

Titel: Schalmeienklänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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meiner Benommenheit gewundert hatte, daß er unsere Körper nicht kühlte, sondern so heiß wirkte wie unser junges Blut, und wir hatten gesagt…
    Ich drehte mich von dem Strohsack zur Tür. In der Vergangenheit zu leben, war wie die Geschichten, die ich zwischen meinen gespreizten Händen spielte: nur dann sinnvoll, wenn man sie für Denkfaule und Kinder vereinfachte. Kurze Geschichten, keine verworrenen, entlockten der Menge ihre Münzen. Jemand hatte Waschwasser neben die Tür gestellt und die Bündel mit unserer Habe aus dem Vorzimmer zum Großen Saal gebracht, und ich sagte mir, daß beides an diesem Morgen mehr wert war als alles, was ich meinem Gedächtnis aus längst vergangenen Zeiten abringen konnte.
    »Schlafen«, brummelte Jorry.
    »Nein, du mußt dich waschen. Komm, Jorry, es ist Morgen.«
    »Ich will schlafen.«
    Ich brachte ihn dazu, aufzustehen und sich zu waschen. Er murrte, trödelte und war so anders als sonst, daß es mir im Herzen weh tat. Ich würde den rechten Zeitpunkt abwarten müssen – und jetzt war offenkundig nicht der rechte –, um ausführlicher mit ihm darüber zu sprechen, was gestern abend vorgefallen war. Ich würde mir vorstellen müssen, wie Brants Worte nicht für mich, sondern für Jorry geklungen hatten.
    Noch eine verworrene Geschichte.
    Die Tür zu unsrer kleinen Kammer war nicht verriegelt. Ich wollte sie gerade öffnen, um auf die Suche nach etwas Eßbarem zu gehen, als Jorry aufschrie.
    Er stand an dem winzigen Fenster und deutete nach draußen. Ich stürzte zu ihm. Hinter den Gittern, ein Stockwerk unter uns, befand sich ein ungepflegter Innenhof zwischen dem unfertigen Flügel des neuen Palastes und der grauen Steinmauer von Velianos alter, befestigter Zitadelle, die nun ein Priesterheim war. Auf dem Innenhof stand ein Galgen, von dem kopfüber die Leichen einer Frau und eines Mannes baumelten. Sie waren gehäutet worden. Blut war auf ihren bloßen Körpern schwarz geworden und getrocknet, nur die Gesichter hatte man unberührt gelassen. Der Wind bewegte sie ein wenig, so daß das Gesicht der leichteren Frau in einer widerwärtigen Parodie eines Kusses gegen das des Mannes stieß.
    »Sie sind tot, Jorry«, sagte ich so ruhig, wie ich konnte. »Sie sind jetzt tot. Sie haben keine Schmerzen mehr.« Ich kniete mich vor ihn und schloß ihn in die Arme. Sein erster Schreck war vorüber; er starrte die Leichen aus faszinierten, fassungslosen Augen an, und seine rechte Hand krampfte sich in den Stoff um meine Schulter.
    »Wer hat sie getötet, Mutter?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Was haben sie Böses getan?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Er dachte nach, und seine Stimme bebte ein wenig. »Sie müssen sehr böse gewesen sein, daß man ihnen solche Schmerzen zugefügt hat.«
    Die Unschuld des behüteten Kindes, zu glauben, daß nur dem Übeltäter Schmerzen zugefügt werden. Meine Schuld – aber hätte ich ihm etwas anderes beibringen sollen? Ich weiß, wie leicht ein Kind, kennt es erst einmal die Losgelöstheit von Verbrechen und Leiden, zum Schluß kommen mag, ersteres anzuwenden, um dem zweiten aus dem Weg zu gehen. Ich hatte gewünscht, daß Jorry weder Opfer noch Peiniger wird. Ich wünschte mir, daß er so lebte wie ich, nämlich weitgehend unbemerkt in den Ritzen der Mauern der Welt. Dort ist es am sichersten.
    Ich sagte: »Ich weiß nicht, ob sie böse waren, Jorry. Ich weiß nicht, was sie getan haben.«
    »Frag nach. Ich möchte es wissen.« Und dann: »Ich mag diesen Palast nicht.«
    »Komm hier weg. Schau nicht hin. Wir müssen uns ums Frühstück kümmern.«
    Die falschen Worte – er sah aus, als wäre ihm übel. Mir war selbst leicht übel. Dieses schreckliche Sich-Berühren der geschundenen Gesichter im Wind…
    Unaufgefordert kehrte die Erinnerung von Brant und mir in der winzigen Dachkammer wieder, dicht zusammengekuschelt auf einem Strohlager, das für einen gedacht war.
    Die Häutung war eine Strafe aus weit zurückliegenden Jahrhunderten, aus wilderen und barbarischen Zeiten. Sie hier und jetzt zu erleben, bedeutete mehr als einen Schock. Es erschien unnatürlich, als wäre die Zeit aus dem Gefüge geraten.
    Jorry umklammerte meine Hand, als wir unseren Weg durch die langen Gänge nahmen.
    Er fühlte sich wohler, als wir die Küche fanden. Dem Hof war das Frühstück noch nicht aufgetragen, so daß die Küche ein Pandämonium von umherhuschenden Dienern, brodelnden Töpfen, spritzendem Fett und köstlichen Backdüften war. Der nervöse Koch warf Jorry und

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