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Schalmeienklänge

Schalmeienklänge

Titel: Schalmeienklänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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anordnest?«
    Er sah mich ungerührt an, aber ich glaubte, einen schmerzlichen Stich aus seiner Stimme zu hören. »Mit wem hast du gesprochen?«
    »Mit einem Küchenmädchen. Meine Informantin ist ebenso unbedeutend und verzichtbar wie ich.«
    »Vergiß das nicht.«
    Ich zwang mich zur Ruhe und glaubte, ich hätte es geschafft. Doch im gleichen Augenblick hörte ich mich schreien: »Aber was sind die Weißen Schalmeien? Was ist so begehrenswert, solche Risiken einzugehen?«
    »Du verstehst weder etwas von Begier noch von Risiken«, antwortete Brant grob. »Davon hast du noch nie eine Ahnung gehabt. Aber du bist eine Geschichtenspielerin, und du weißt, daß selbst die schlichteste Geschichte zwischen deinen Handflächen aus deinen Bewußtseinsinhalten kommt, die durch Drogen der Ersten und Zweiten Phiole erschlossen werden. Was hörst du, nachdem du die Zweite Phiole getrunken hast?«
    »Hören…«
    »Ja. Hören.«
    »Musik. Einen schwachen Ton.«
    »Sing ihn vor.«
    »Ich kann nicht. Ich kann mich nie daran erinnern.«
    »Du hörst ihn niemals wirklich. Du fühlst ihn nur, nicht wahr, in deinen Muskeln und deinem Blut.«
    »Ja. Das ist es… ja.«
    »Die Bewußtseinskünste, die du sahst, als ich erfuhr, daß Jorry… mein Sohn ist…«, er stolperte darüber, und ich blickte überrascht zu ihm hoch, doch im silbernen Mondlicht wirkte sein Gesicht so hart wie zuvor, »diese Künste unterscheiden sich vom Geschichtenspielen nur durch den Gebrauch unterschiedlicher Drogen, die tiefere Bewußtseinsschichten lösen. Die Tiefen müssen gelöst und dann zu Leben erweckt werden. Und dazu gibt es bestimmte Notenkombinationen, bestimmte Tonsequenzen und -höhen, die Bewußtseinsbewegungen freilegen, von deren Existenz man nicht einmal wußte.«
    Ich mußte an den Jungen mit der Flöte denken und wie ich wie verzaubert von seinem Spiel stehengeblieben war und namenlose und heftige Gefühle empfunden hatte. Selbst die Pferde waren stehengeblieben, hatten ihre Köpfe nach der Musik gedreht und waren in ihrer tierischen Psyche gerührt worden.
    Brant fuhr fort: »Es gibt Melodien, die die verankerten Bewußtseinsschichten ansprechen und Drogen, die sie lösen. Beides ging verloren, beides wurde wiederentdeckt.«
    »Und die Weißen Schalmeien?« fragte ich, aber ich glaube, ich wußte die Antwort schon.
    »Die Weißen Schalmeien spielen nur eine Melodie, und sie ist es, die alle Macht des Bewußtseins des Spielenden freisetzt und das Bewußtsein des Zuhörers fesselt. Jedoch nur in Verbindung mit der Droge. Und auf den Silberbändern, die die beiden Schalmeien zusammenhalten, sind die Blätter und Halme dieser Droge eingeritzt. Wer die Musik hört, die Droge einnimmt und sein Bewußtsein diszipliniert, hat Zugang zu allen geistigen Kräften. Diejenigen, die Musik hören, aber keine Drogen nehmen und nur mit den richtungslosen Impulsen ihrer kläglichen Gedanken Widerstand zu leisten versuchen, liegen dann so offen da wie unbewaffnete und nackte Männer vor einer Armee.«
    »Seelenjäger und Seelenerjagte«, sagte ich. Und dann: »Bei den Schutzgöttern, es war wahr. Es war real.«
    »Die Schutzgötter haben damit nichts zu tun. Und auch alle anderen Götter nicht.«
    »Die Weißen Schalmeien. Und du hast sie.«
    Brant wiederholte sehr betont: »Ard hat sie mir geschenkt.«
    Wieder sah ich die im Hof aufgezogenen gehäuteten Leichen, die geschwärzten Dinger, die einst Menschen gewesen waren. Ich sah Leonores reglose Augen und die grausame Linie um Brants Mund, und ich hörte die schwer faßbare Musik, die erklang, nachdem ich die Zweite Phiole leergetrunken hatte. Ein unbewaffneter, nackter Mann vor einer Armee – das war das Bild, das Brant benutzt hatte. Aber ich sah ein anderes: Jorrys ungeschütztes Gesicht im Mondschein und eine Kinderstimme, die sagte: »Sie müssen sehr böse gewesen sein, daß man ihnen solche Schmerzen zugefügt hat.«
    Ich machte mein Handgelenk aus Brants Umklammerung frei. Er spannte seinen Körper, als er glaubte, ich wollte wieder davonlaufen. Ich lief nicht. Aber ich konnte seine Berührung nicht ertragen. Ich sah, wie seine Hände die Weiße Schalmei hielten, sie an die Lippen führten und alles Lebende rings um ihn her dem Willen unterworfen war, dem ich mich durch einfache Flucht entzogen hatte. In einem Reich unter der Herrschaft der Weißen Schalmeien, einem Reich, wo alle Köpfe gezielt durchleuchtet und kontrolliert werden konnten, gäbe es eine solche Flucht nicht mehr.
    Ein Gegner hatte

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