Schalom
geschwiegen und den Blick gesenkt, und dann wusste sie, dass sie ihn gekränkt hatte. Sie hatte ihm den Arm um die Schulter gelegt und ihn besänftigt. Auch jetzt spürte sie den Impuls, diesen Jungen zu besänftigen. Sie hatte ihn nicht verletzen wollen. Doch bevor sie mutig genug gewesen wäre, ihn zu berühren, sah sie wieder jene Gestalt vor sich und erstarrte. Einen Moment lang zweifelte sie, ob es richtig gewesen war, den Jungen in die Wohnung zu lassen. Mitleidig schaute sie ihn an. Er saß ruhig da, als erwarte er sein Urteil. Sie wollte ihre Hand auf seine Schulter legen und sagen: Nein, nein, ich wollte dir nicht wehtun, sie wünschte sich, das Leuchten in die Augen dieses Jungen zurückzubringen, aber irgendetwas hinderte sie daran.
Als sie sich wieder gefasst hatte, sagte sie: »Erzähl mir doch, was du in dem Altersheim in Tel Aviv machst.«
Er sah zu ihr hoch, und noch bevor er lächelte, sah sie ihm an, dass er wusste, dass sie sich nicht für das Altersheim interessierte. Dennoch begann er ihr von seinem Tagesablauf zu berichten, von seinen Kollegen, von der Leiterin des Hauses und vom Heim. Nur von den Menschen, für die das Haus gebaut worden war, sagte er nichts. Sie überlegte verwundert, ob er es mit Absicht tat, fragte aber nicht nach.
Als er ihr die Hand hinhielt, weil er gehen wollte, hätte sie am liebsten den Arm um seinen Nacken geschlungen, seinen Kopf zu sich heruntergezogen und ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange gegeben, aber sie beherrschte sich und gab ihm die Hand, und als sie seine Hand in ihrer hielt, erschrak sie plötzlich. War das ein Abschied? Würde er sie wieder besuchen, nachdem er die Großmutter kennengelernt hatte, die sich so viele Jahre lang geweigert hatte, ihn zu sehen? Wusste er überhaupt, dass sie sich geweigert hatte, ihn zu sehen?
»Moment«, sagte sie und lief zu dem Heft, das neben dem Telefon hing.
Er machte einen Schritt, blieb stehen und schaute sie von der Tür aus an.
»Du hast doch meine Telefonnummer nicht, ich möchte, dass du mich anrufst und mir erzählst, wie es dir geht.«
»Ich habe die Nummer«, sagte er. »Mein Vater hat sie mir gegeben.«
»Was hat dir dein Vater gegeben?«
»Deine Telefonnummer.«
Natürlich, wie hatte sie bloß glauben können, dass er nicht wusste, wie sie telefonisch zu erreichen war. Schließlich hatte er auch ihr Haus gefunden. Jaki hatte vielleicht gesagt, er solle sie nicht besuchen, aber bestimmt hatte er insgeheim gehofft, sein Sohn würde ihm nicht gehorchen.
Sie ging zur Tür zurück und gab ihm ein zweites Mal die Hand. Er hielt sie lange und schaute ihr direkt in die Augen, genau wie Menachem es getan hatte. Sie konnte sich nicht mehr beherrschen, und während sie mit einer Hand die seine hielt, griff sie mit der anderen hinauf, zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn auf die Wange. Sie wunderte sich über sich selbst, wie schnell sie das getan hatte, aber er war überhaupt nicht verlegen, und als hätte er auf diese Bestätigung gewartet, legte er die Arme um ihre Schultern, umarmte sie und gab ihr einen Kuss.
»Mach dir keine Sorgen, Großmutter, ich werde mindestens einmal in der Woche anrufen.«
Wieder nannte er sie Großmutter, und in seinen Menachem-Augen sah sie alles, was dieser Abschiedskuss bedeutete. Und sie wusste, dass sie einen neuen Enkelsohn hatte.
Er stieg die Treppe hinunter, und bevor er um die Ecke bog, schaute er zu ihr zurück.
»Auf Wiedersehen«, rief er und winkte ihr zu.
Sie blieb lange an der offenen Tür stehen, auch nachdem er verschwunden war. Dann hörte sie irgendjemanden die Treppen heraufkommen, und obwohl sie schnell in die Wohnung wollte, um Avri von dem Besuch zu erzählen, auch wenn sie ihn dafür auf dem Handy anrufen musste, wartete sie ab, um zu sehen, ob es nicht der Professor war.
7
Als er das Treppenhaus betrat, hörte er, wie Frau Silber sich oben von jemandem verabschiedete, und er hatte die paar Stufen bis zum Treppenabsatz noch nicht geschafft, da kam ihm schon ein groß gewachsener Junge entgegen, der mindestens einen Kopf größer war als er.
Obwohl sich Professor Sad sicher war, dass er diesen jungen Mann nie zuvor gesehen hatte, kam ihm sein Gesicht irgendwie bekannt vor. Eine Minute zuvor hatte er gehört, wie er »Auf Wiedersehen« zu Frau Silber gesagt hatte, in einem Ton, der auf Vertrautheit hindeutete.
Nach dem Tod ihres Mannes hatte Frau Silber nicht viele Besucher. Vielleicht waren es in den ersten Monaten mehr gewesen,
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