Schalom
hörten nicht auf. Sie machte die Augen auch nicht auf, als sie spürte, dass jemand vorsichtig etwas aus ihrem Gesicht entfernte und dass eine warme Hand ihren Nacken stützte. Sie blieb reglos liegen. Erst als sie von Weitem Menachems Stimme vernahm: »Hob nischt kejn mojre, ich bin a jid« , öffnete sie die Augen und sah den rettenden Engel vor sich, Menachem.
Diese Stimme hallte nun als Echo in ihrem Kopf wider. Sie schaute zu dem jungen Mann hoch, der vor ihr stand, und erschrak. Er sah genauso aus wie Menachem, nur war er größer und kräftiger.
Sie wich erschrocken zurück, ohne den Blick von ihm zu wenden. »Ein kleiner Menachem«, flüsterte sie, musste lächeln und dachte: Klein ist er ja nicht gerade.
Er lächelte schüchtern und sagte kein Wort, und sie ließ verblüfft und bewundernd die Blicke über ihn gleiten. Lange standen sie sich schweigend gegenüber, und sie hätte immer so stehen bleiben können, hätte er nicht zögernd gefragt: »Darf ich eintreten?« Seine Stimme hörte sich flehend an, und plötzlich war sie sich seltsam sicher, dass er ohne ihr Einverständnis nichts tun würde.
Sie ging noch einen Schritt zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und lud ihn mit einer Handbewegung zum Eintreten ein, insgeheim verwundert, dass sie es ohne jedes Zögern tat. Zweifellos hätte ihn Menachem ebenfalls ins Haus gebeten, vielleicht hätte er es sogar gewagt, ihn zu umarmen.
Er bückte sich etwas, als er durch die Tür ging, obwohl das nicht notwendig gewesen wäre, ging an ihr vorbei, machte noch einen Schritt und drehte sich zu ihr um. Sie schloss die Tür und schaute ihn die ganze Zeit an.
Früher hatten sie und Menachem keine Ähnlichkeit zwischen sich selbst und Avri entdecken können, aber bei Jaki gab es keinen Zweifel, schon bei seiner Geburt hatten sie gesehen, wie sehr er Menachem ähnlich sah. Die dichten schwarzen Haare, die gerade Nase mit der scharfen Spitze, die sich zur Vertiefung in der Oberlippe neigte. Sie hatte sogar die Falten zwischen Nase und Mundwinkel, die Menachem hatte, bei Jaki wachsen sehen. Und nun kam dieser Junge und sprach auch noch mit dieser Stimme … Nein, es war nicht bloß Ähnlichkeit, es war, als wäre Menachem jetzt hier. Als wolle er sie nicht alleinlassen. Die Tatsache, dass Menachem in Person dieses Jungen zu ihr zurückgekehrt war, empfand sie als Genehmigung, Menachems Verbot rückgängig zu machen.
Selbst nachdem sie die Tür geschlossen hatte und ihm gegenüberstand, konnte sie den Blick nicht von ihm lassen. Und in seinen Menachem-Augen las sie die Bitte ihres Menachem: »Nimm ihn an, Nechama, er ist unser Enkel.«
Sie merkte, dass ihre Blicke ihn verlegen machten. Er schaute sie an, während sie ihn anschaute, und sagte nichts, da war nur dieses verlegene Lächeln. Er gab ihr keine Hand, versuchte nicht, sie zu umarmen und auf die Wangen zu küssen. Wie Menachem überließ er ihr die Initiative, wenn es um Nähe und Berührung ging.
»Komm, kleiner Menachem, setz dich«, sagte sie und deutete auf einen Sessel im Wohnzimmer.
»Gil«, sagte er lächelnd, und sie merkte erst jetzt, dass sie ihre Gedanken einfach ausgesprochen hatte.
Sie führte ihn ins Wohnzimmer und sie setzten sich einander gegenüber. Nechama sah in den Augen des Jungen eine Nähe, die Worte unnötig machte, und so schauten sie sich lange schweigend an. Nechama wusste nicht, wie lange sie da saßen, bis sie schließlich das Gefühl hatte, etwas sagen zu müssen. Sie schlug sich aufs Knie.
»Was für eine Großmutter bin ich denn, ich habe dir noch nicht einmal etwas zu trinken angeboten.« Als sie das Wort »Großmutter« aussprach, hörte sie das Zittern in ihrer Stimme.
Auch in seinen Augen flackerte etwas auf, als er dieses Wort hörte, aber er war sensibel genug, sie nicht voreilig damit zu überfallen.
»Das ist völlig in Ordnung«, sagte er, »ich verdurste nicht.«
Es war klar, dass sie diese höfliche Bescheidenheit nicht annehmen konnte, sie eilte in die Küche und er blieb allein im Wohnzimmer zurück.
Jetzt schaut er sich um und betrachtet die Fotos von Menachem und den Söhnen, dachte sie, während sie ein Tablett mit kalten Getränken vorbereitete. Außerdem gab es da auch die Fotos von Avri und seinen Kindern. In der kurzen Zeit, die er da war, hatte sie schon gemerkt, dass dieser Junge Menachems Empfindsamkeit geerbt hatte. Es würde ihm bestimmt auffallen, dass keine Fotos von ihm oder seinen Geschwistern zu finden waren. Aber er würde sich
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