Schalom
doch dann kam nur noch ihr Sohn mit seiner Frau und den Kindern, und in den letzten Jahren hatte er, wenn er sich nicht irrte, nur noch den Sohn im Treppenhaus gesehen.
Bis heute empfand er immer eine gewisse Verlegenheit, wenn er Frau Silber traf. Obwohl sie ihn immer mit einem Lächeln und ein paar guten Worten begrüßte, wusste er nicht, ob die Tatsache, dass sie ihn immer mit »Professor« anredete, wirklich als Ehre gemeint war. Er fürchtete, diese Genauigkeit könnte Spott gegenüber Trägern akademischer Titel bedeuten, die sich für etwas Besseres hielten. Er gehörte aber nicht zu dieser Gruppe und benutzte seinen Titel nur selten. Im Übrigen war sie der einzige Mensch, der ihn noch bei seinem alten Namen nannte, Salzbad. Weiß Gott, woher sie den Namen wusste, denn als sie und ihr Mann hier eingezogen waren, einige Jahre nach Fertigstellung des Hauses, war er schon überall unter dem Namen Mosche Sad bekannt.
Der Leiter des Institutes war es gewesen, der ihm geraten hatte, einen Nachnamen mit einem hebräischen Klang zu suchen. Weil er aber ein Einzelkind war und niemand mehr außer ihm den alten Namen trug, hatte er nicht gänzlich auf ihn verzichten wollen, er hatte eine schlaue Lösung gefunden und den Namen einfach abgekürzt. Dabei achtete er stets darauf, ihn korrekt auszusprechen, mit einem deutlichen a, nicht wie das englische »sad«. Und nie erwähnte er, dass sein voller Name Salzbad war und Sad nur die ersten und letzten Buchstaben seines Namens.
Aber dass er es vermied, Frau Silber zu treffen, lag nicht daran, dass sie darauf bestand, ihn bei seinem vollen Namen zu nennen.
Die Wahrheit war, dass er nicht in ihre Augen schauen konnte, ohne verlegen zu werden. Jedes Mal hatte er das Gefühl, sie wisse Bescheid, dass er sie von oben, durch die Lamellen des Rollladens beobachtete. Durch das winzige Fenster in ihrem Badezimmer sah er übrigens nur ihre Brust, ihr Gesicht konnte er nicht sehen. Als er das kleine Fenster in seinem Schlafzimmer nachträglich einbauen ließ, war es ihm nur um den Luftzug während der Sommernächte gegangen, nicht darum, welcher Ausblick sich ihm bieten würde. Beim ersten Mal war er sehr erschrocken und hatte sich beeilt, den Rollladen herunterzulassen, und ihn auch nicht mehr zu öffnen gewagt, bis Herr Silber ihn eines Tages gefragt hatte, warum er sich ein neues Fenster hatte anfertigen lassen, wenn er den Rollladen nie öffnete. »Weht hier ein böser Wind?«, hatte er gefragt, und Professor Sad hatte gespürt, wie ihm heiß wurde und ihm die Röte ins Gesicht stieg. Schnell hatte er gesagt, er würde das Fenster nur nachts öffnen, tagsüber halte er sich nicht im Schlafzimmer auf.
Außerdem verzieh er ihr nicht, dass sie ihn nicht wenigstens einmal in ihre Wohnung eingeladen hatte.
Ihr Mann, Herr Silber, hatte ihn immer strahlend begrüßt und auch mehrmals zu einer Tasse Kaffee eingeladen, wobei er das Gebäck seiner Frau lobte, und einmal sogar zum Mittagessen. Aber Professor Sad hatte diese Einladungen immer ausgeschlagen. Die beiden, der Mann und die Frau, schienen so eng miteinander verbunden zu sein, dass er das Gefühl hatte, er dürfe sich nicht zwischen sie drängen, und außerdem machte es ihn immer verlegen, wenn er die Frau traf. Als sie jung waren, war ihr Herr Silber immer entgegengegangen, wenn sie vom Einkaufen zurückkam, um ihr die Taschen hochzutragen, und als Herr Silber dann krank wurde und die Stufen kaum noch schaffte, hatte sie ihn gedrängt, zwischen den Etagen eine Pause einzulegen.
»Wir haben es doch nicht eilig«, hatte sie gesagt, »oder warten etwa Babys auf uns?«
Damals war es ihm nicht entgangen, dass Frau Silber ihn, wenn ihr Mann ihn einlud, ermutigend angeschaut hatte, aber er hatte die Einladungen höflich abgelehnt. Später war ihm die Idee gekommen, sie könnte diese höflichen Absagen als eine akademische Arroganz verstanden haben, als passe es ihm nicht, sich mit einfachen Menschen abzugeben.
Er verstand auch nicht, warum sie ihn nicht aufgefordert hatte einzutreten, als er an ihre Tür klopfte, um sie zu einer Tasse Kaffee bei ihm oder in einem Café einzuladen.
Sie hatte nicht einmal die Sicherheitskette entfernt, als sie durch den Türspalt schaute und sagte: »Herzlichen Dank, Professor Salzbad, aber Sie wissen doch, dass ich eine verheiratete Frau bin.«
Er wollte sie nicht verletzen, deshalb hatte er nicht erwähnt, dass ihr Mann schon über zwei Jahre tot war.
»Darf eine verheiratete Frau nicht mit
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