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Schalom

Titel: Schalom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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sagte.
    »Wie geht es dir, Kind?«
    »Kind? Da übertreibst du ein bisschen, oder?«
    »Für mich bleibst du immer ein Kind.«
    »Und was ist mit meinem Kind? Avri hat mir gesagt, dass er dich trotzdem besucht hat.«
    Was hieß da »trotzdem«? Was hatte Avri ihm erzählt? Hätte sie Avri nichts von dem Besuch gesagt, hätte Jaki es noch gar nicht erfahren.
    Sie sagte: »Was heißt da, trotzdem? Ich bin doch diejenige, die Avri erzählte, dass er hier war. Woher sollte er es sonst wissen?«
    »Nein, nein, das ist klar, ich habe ›trotzdem‹ gesagt, weil wir ihm gesagt hatten, er soll dich nicht besuchen.«
    Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Ganz kurz wunderte sie sich, warum sie ihm gesagt hatten, er solle sie nicht besuchen. Schließlich war sie seine Großmutter, nicht wahr? Reichte es nicht, dass sie ihn die ganzen Jahre vor ihr versteckt hatten? Doch dann erinnerte sie sich, dass es sie war, die von Avri verlangt hatte, dafür zu sorgen, dass er nicht kam.
    Nun ja, woher hätte sie wissen können, dass er ein »kleiner Menachem« war?
    »Mutter?« Jakis Stimme drang in ihr Bewusstsein.
    »Ja«, sagte sie, »ja, er war hier.«
    »Und?«, wollte Jaki wissen.
    Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wollte ihn fragen, warum man ihn die ganzen Jahre vor ihr versteckt hatte, aber sie wusste, dass sie ihn nicht vor ihr versteckt hatten. Avri hat sogar versucht, sie zu überreden, mit ihm zu fahren, als er sie besuchte, oder sie nach Israel einzuladen. Was sollte sie also jetzt sagen? Sie konnte doch nicht zugeben, dass sie gedacht hatte, Menachem stehe vor ihr. Und wie er ihr Herz auf den ersten Blick erobert hatte, sodass sie ihm die Tür aufmachte und noch nicht mal die Sicherheitskette vorgelegt hatte.
    »Er hat mir gerade gesagt, dass er am Freitag wieder zu mir kommt.«
    »Aber wie war die Begegnung?«, beharrte Jaki.
    »Er sieht deinem Vater so ähnlich …«, sagte sie und stockte. Tränen schnürten ihr die Kehle zu und ließen sie verstummen.
    »Ich weiß das, Mutter. Es ist alles in Ordnung, reg dich nicht auf, ich kann mir vorstellen, dass …«
    »Was kannst du dir vorstellen?«, unterbrach sie ihn und fing an zu weinen. »Wie willst du dir das dort in jenem Land vorstellen können? Plötzlich hat dein Vater vor mir gestanden, größer und stärker als damals, als ich ihn zum ersten Mal sah, als er zu mir sagte, ›Hob nischt kejn mojre, ich bin a jid‹ , und er hat gesagt, er ist mein Enkel, den ihr die ganzen Jahre vor mir versteckt habt, dort, bei euch, in jenem Land.«
    »Mutter, du weißt, dass wir ihn nicht versteckt haben.«
    »Ich weiß, ich weiß«, sagte sie, »aber ich habe ihn nie gesehen, und ihr habt die ganze Zeit gewusst, wie ähnlich er eurem Vater ist, und mir nichts gesagt.«
    »Wir haben es dir gesagt, aber du hast es nicht hören wollen.«
    »Schon gut, lassen wir das jetzt. Es ist schwer genug, auch ohne diese Diskussion. Wie geht es dir?«
    »Ich diskutiere schon lange nicht mehr. Mir geht es gut, den Kindern geht es gut und auch Anna ist wohlauf. Und wie geht es dir, Mutter?«
    Sie schwieg, sie spürte seine Verbitterung und konnte nicht ignorieren, dass er in seiner Antwort auch die da erwähnt hatte, obwohl sie sich nicht nach ihr erkundigt hatte, oder vielleicht gerade deswegen. Sie wollte aber keinen Zorn schüren. Sie wusste, wenn er sie nach all diesen Jahren nicht verstehen konnte, würde er sie wahrscheinlich nie verstehen. Wegen dieser Frau hatte er auf seine Eltern verzichtet. Wenn er es übers Herz gebracht hatte, einer Tochter von Deutschen zu folgen und mit ihr dort zu leben, dann konnte er seine Mutter nicht verstehen. Aber ausgerechnet vonseiten seines Sohnes, dieses kleinen Menachem, hatte sie so etwas wie Verständnis gespürt. Er ging mit ihr vorsichtig um. Vielleicht hatte er Angst, hinausgeworfen zu werden? Nein, das war es nicht. Er hatte sich getraut, sie einfach zu besuchen, obwohl sie sich geweigert hatte, ihn zu treffen, was hatte er also zu befürchten? Nein, er war ganz einfach sensibel.
    Menachem wäre vor Wut explodiert, hätte er den bitteren Ton in Jakis Stimme gehört, aber sie hatte keine Lust, mit dem alten Streit anzufangen, deshalb schwieg sie.
    »Mutter?«, sagte Jaki wieder.
    »Ich höre dich«, antwortete sie leise. Bestimmt nahm er das Zittern in ihrer Stimme wahr.
    »Ich möchte dir nicht wehtun, Mutter«, sagte er. Wieder stiegen Tränen in ihrer Kehle auf und ließen sie verstummen.
    Lange horchten sie jeder auf den Atem des

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