Schalom
angeboten, er hatte sie abgelehnt und sich geweigert, auf seine Fragen zu antworten.
»Ich habe dich noch nicht oft bei deiner Großmutter gesehen«, sagte er.
Der Junge wandte ihm das Gesicht zu und wieder strahlte ihm Herrn Silbers Lächeln entgegen.
»Ja«, sagte der Junge, »ich war noch nie in Israel, ich bin zum ersten Mal hier.«
Das erklärte natürlich Frau Silbers Aufregung. Auch für sie war er ein neuer Enkel.
»Aus welchem Land kommst du? Man hört keinen Akzent.«
»Danke, ich komme aus Deutschland, aber bei uns zu Hause wird Hebräisch gesprochen.«
»Ach ja, die deutsche Sprache ist auch meine Muttersprache« , sagte der Professor auf Deutsch und empfand eine plötzliche Sympathie für diesen jungen Mann.
Etwas verlegen, die Augen auf den Bürgersteig gerichtet, sagte der junge Mann: »In Israel ziehe ich es natürlich vor, Hebräisch zu sprechen.«
Natürlich, denn dort, wo er herkam, konnte er nur mit seinen Eltern Hebräisch sprechen. Dieses Gefühl kannte der Professor nur zu gut. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er den jüngeren Sohn seiner Nachbarin schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie hatten doch zwei Söhne. Den älteren sah er ab und zu, aber den jüngeren hatte er schon lange nicht mehr getroffen, vielleicht würde er ihn gar nicht mehr erkennen.
Sie hatten sich dem Haus genähert.
»Dann ist dein Vater bestimmt der jüngere Sohn deiner Großmutter.«
»Ja, mein Vater ist Jaki.«
Der Professor konnte sich nicht an den Namen erinnern, aber er nickte.
»Und wo wohnst du in Deutschland, wenn ich fragen darf.«
»In München.«
»Ich komme zwar aus Berlin, aber ich habe zwei Jahre in München gelebt, bevor ich nach Israel ausgewandert bin. Es war irgendwo in der Nähe des Englischen Gartens.«
»Wir wohnen auch in der Nähe des Englischen Gartens, in der Kaulbachstraße. Vielleicht erinnern Sie sich?«
»Du kannst mich Sad nennen, Mosche Sad«, sagte er und fügte hinzu, dass er sich an die Namen der Straßen nicht mehr erinnerte, nur noch an die Ohmstraße, in der er gewohnt hatte. Er wusste auch noch, dass die Ohmstraße in den Englischen Garten mündete. Aus irgendeinem Grund hatte sich in seinem Gedächtnis das Bild eines toten Eichhörnchens eingegraben, das er einmal am Rand des Englischen Gartens auf dem Bürgersteig hatte liegen sehen.
Der Junge war begeistert: »Was für eine kleine Welt.« Er erzählte, die Ohmstraße sei sehr nah an der Kaulbachstraße, wenn sie gleichaltrig wären, hätten sie sich bestimmt gekannt.
»Du kannst Gott danken, dass du nicht in meinem Alter bist«, sagte er.
»Natürlich«, sagte der Junge. »Ich meinte nur, dass es sehr nah ist zu dem Haus, in dem ich lebe.«
Hoffentlich würde der Junge ihn jetzt nicht über den Nationalsozialismus ausfragen. Na gut, auch wenn er fragen würde, war es nicht so schlimm, sie hatten das Haus erreicht und er würde sowieso keine Zeit haben, etwas zu erzählen. Aber der Junge fragte nichts, er stieg hinter ihm die Treppe hinauf und trug die Tasche.
Als sie Frau Silbers Wohnungstür erreicht hatten, sagte Professor Sad: »Herzlichen Dank, das war mir wirklich eine große Hilfe.«
Der Junge wollte ihm die Tasche noch bis zu seiner Tür tragen, aber er lehnte es ab. Der Junge bestand nicht darauf, gab ihm die Tasche und bedankte sich bei ihm, dass er sich von ihm hatte helfen lassen. »Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen«, sagte er noch.
Er nickte und verschwand schnell in seiner Wohnung, bevor Frau Silber ihre Tür öffnete.
11
Heute Morgen hatte niemand an der Tür geklingelt und auch das Telefon war stumm geblieben. Nach dem Gespräch mit Jaki war alles in gewohnten Bahnen gelaufen. Zweimal hob Nechama den Hörer ab, um zu prüfen, ob das Gerät nicht vielleicht kaputt war, aber das Freizeichen war klar und deutlich wie immer.
Sie hoffte auf einen Anruf von Avri. Sie wollte ihm von dem Gespräch mit Jaki berichten, aber Avri schien zu tun zu haben. Und weil Gils Besuch dafür sorgte, dass sie häufiger mit Avri telefonierte als sonst, wollte sie ihn auf keinen Fall noch mehr belästigen und beschloss, sich zusammenzureißen und zu warten, bis er sie anrief.
Sie hatte das kleine Zimmer bereits gestern für Gil vorbereitet, hatte alle Gegenstände, die auf dem Bett lagen, weggeräumt, Staub von der Matratze gesaugt, das Bett frisch bezogen und ein sauberes Handtuch auf das Kissen gelegt. Sie wusste nicht, wann er kommen würde, wollte aber in seiner Anwesenheit nicht mehr
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