Schalom
nicht aufwecken, nur um ihm zu sagen, dass Gil Menachem ähnlich sah, etwas, was er vielleicht ohnehin wusste, denn er hatte den Jungen schon einige Male gesehen. Er sollte auf keinen Fall denken, dass seine alte Mutter eine Nervensäge war.
Sie wäre gern länger im Bett geblieben, aber ohne Schlaftabletten ging das nicht mehr, und sie wollte keine nehmen. Zum Glück konnte sie abends gut einschlafen, dann war es nicht so schlimm, wenn sie morgens früh wach wurde. Und wenn die Müdigkeit überhandnahm, konnte sie sich mittags hinlegen. Die Uhr schien stillzustehen, aber sie hatte es jetzt nicht mehr eilig, sie würde vor acht Uhr nicht anrufen.
Nechama stellte den Wasserkessel auf den Herd und tat einen Löffel Pulverkaffee in die Tasse. Zila sagte immer, Kaffee sei ungesund. Vielleicht hatte sie recht, aber Nechama liebte schwarzen, bitteren Kaffee, und vielleicht war ja ihr Leben etwas weniger bitter als Zilas. Als Kind war Zila ganz anders gewesen. Nechama wusste nicht, warum sie so verbittert geworden war und wann es angefangen hatte. Sie hatte an allem etwas zu meckern. Nie würde sie Zilas giftiges Gesicht vergessen, als sie sagte, dass Avri seinen Eltern überhaupt nicht ähnlich sehe.
Zila hatte ihren Verdacht zwar noch nicht deutlich ausgeführt, aber Nechama hatte verstanden. Auch Menachems vernünftige Erklärungen, dass diese böse Vorstellung schlechterdings unmöglich sei, weil Avri ein ganzes Jahr nach jenem schrecklichen Ereignis geboren worden war, hatten nichts genützt. Zila hatte es gesagt und Nechama hatte diesen giftigen Blick bis heute nicht vergessen können. Natürlich gab es überhaupt keinen Zweifel daran, dass Menachem der Vater war, aber sie konnte nicht leugnen, dass weder sie noch Menachem blond waren, und Avri war richtig blond und seine Augen waren bis heute noch blau.
Nechama liebte den Kaffeeduft, der ihr in die Nase stieg, als sie das kochende Wasser über das Pulver goss. Gil hatte versprochen, sie mindestens einmal in der Woche anzurufen. Konnte es sein, dass sie jetzt schon Sehnsucht nach seiner Stimme empfand? Ja, sie hatte Sehnsucht nach Menachems Stimme, die aus Gils Kehle kam.
Sie stellte ihre Kaffeetasse auf den Tisch und schnitt sich eine dünne Scheibe vom Rest des englischen Kuchens ab, den sie ihrem neuen Enkel angeboten hatte. Sie bereute es, nicht vor dem Frühstück hinunter in den Laden gegangen zu sein, um frische Brötchen zu holen. Sie wollte sie einfrieren, und es war besser, wenn man sie ganz frisch einfror, dann schmeckten sie nach dem Auftauen besser. Aber nun stand der dampfende Kaffee vor ihr, und sie sollte ihn trinken, bevor er kalt wurde. Nach dem Kaffee würde sie in den Lebensmittelladen gehen. Doch wenn sie zu früh ging, hätte Avri schon das Haus verlassen, und sie müsste wieder mit dem nervigen Taschentelefon reden. Nun, die Brötchen konnten noch ein bisschen warten. Sie hatte kaum ein oder zwei Schlucke getrunken, als das Telefon sie aus ihren Gedanken riss. Dieses Klingeln erschreckte sie immer, auch wenn sie dasaß und darauf wartete. Vielleicht sollte sie Avri bitten, den Klingelton leiser zu stellen, dachte sie, als sie den Hörer zum Ohr führte. Aber dann würde sie es nicht hören, wenn sie in der Küche war.
»Guten Morgen«, sagte sie und wusste, dass auf der anderen Seite der Leitung Avri war, noch bevor er ein Wort sagte.
Obwohl sie seinen Anruf schon am Vorabend erwartet hatte, war seine Entschuldigung nicht nötig. Es musste ja einen Grund geben, wenn er vergaß, sie anzurufen. Wenn er sie nicht anrief, war klar, dass er in etwas anderes vertieft war. Dann war es für sie besser, zu warten, bis er Zeit für sie hatte.
Als sie ihm gestern vom Besuch des neuen Enkelsohns erzählt hatte, war er nicht sonderlich begeistert gewesen. Doch als er sie jetzt begrüßte und sich für seine kurz angebundene Reaktion von gestern entschuldigte und sich nicht daran zu erinnern schien, dass er versprochen hatte, sie am Abend anzurufen, merkte sie schon, dass er jetzt alles hören wollte.
Sie berichtete nun, sie habe sich sofort, schon als sie durch das Guckloch schaute, so sicher gefühlt, dass sie ihn nicht fragte, wer er war, sondern gleich die Tür öffnete. Und als er sich vorstellte und sagte: »Ich bin Gil«, habe sie geantwortet: »Schalom, Gil, ich bin Nechama.« Eigentlich war sie nicht mehr sicher, ob sie das tatsächlich gesagt hatte, aber Avri hörte ruhig zu und sagte nur ab und zu: »Was? Wirklich?« oder »Was du nicht
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