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Schalom

Titel: Schalom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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sagst.« Sie redete ununterbrochen, und es war ihr nicht wichtig, ob es sich genau so ereignet hatte oder ob sie sich nur wünschte, es sei so gewesen. Avris neugierige Reaktionen bewiesen ihr, dass er ihr zuhörte und gierig danach war, noch mehr zu hören, und das tat ihr so gut, dass sie nicht aufhören wollte.
    Während sie sprach, schoss es ihr durch den Kopf, dass sie seit Menachems Tod nicht mehr so lange miteinander gesprochen hatten, und erst als sie davon sprach, wie ähnlich Gil Menachem war, wurde sie plötzlich verlegen. Avri sagte, das wisse er, und er habe schon früher einmal versucht, es ihr zu sagen, doch damals habe sie nichts davon wissen wollen. Da dachte sie plötzlich, sie hätte das Thema Ähnlichkeit vielleicht nicht erwähnen sollen. Er hatte nie gefragt, warum er weder ihr noch Menachem ähnlich sah, und auf einmal fürchtete sie, ihre eigene Aufregung wegen der Ähnlichkeit zwischen Gil und Menachem könnte ihn verärgern. Avri brachte dieses Thema nie zur Sprache, es war, als merke er es nicht oder als messe er ihm keine Bedeutung bei. Er wunderte sich nicht einmal, dass keines seiner Kinder ihr oder Menachem ähnlich sah.
    Avri bat sie weiterzuerzählen, aber ihr Redefluss war nun ins Stocken geraten, deshalb behauptete sie, alles erzählt zu haben.
    Als sie auflegte, war ihr Kaffee nur noch lauwarm und sie musste ihn in der Mikrowelle erhitzen. Der Geschmack des aufgewärmten Kaffees glich nicht dem Kaffee, auf dem noch der Schaum lag, aber es war auch kein Grund, ihn wegzuschütten und einen neuen zu kochen. »Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert«, hatte Menachem immer gesagt, und natürlich hatte er recht gehabt.
    Doch auch von dem aufgewärmten Kaffee konnte sie nur einen Schluck oder zwei trinken, bevor das Telefon sie wieder zusammenfahren ließ. Was war heute los? Konnte man denn nicht mehr in Ruhe eine Tasse Kaffee trinken? Aber sie sollte sich lieber nicht beklagen. Schließlich erhielt sie manchmal tagelang keinen einzigen Anruf.
    »Guten Morgen«, sagte sie in den Hörer hinein.
    »Guten Morgen, Großmutter«, antwortete Menachem, und sie zitterte, als sie seine Stimme hörte, obwohl sie gleich wusste, dass es nicht wirklich Menachem war.
    Es gefiel ihr, dass er sie Großmutter nannte, und sie konnte ihre Aufregung kaum verbergen. Sie wollte ihn mit seinem Namen begrüßen, brachte aber keinen Ton heraus. Erst als er besorgt fragte: »Großmutter? Bist du in Ordnung?«, kam sie wieder zu sich und konnte sprechen.
    »Guten Morgen, Gil«, sagte sie schnell. »Natürlich bin ich in Ordnung. Wie geht es dir?«
    Dann fiel ihr ein, dass Avri sie gefragt hatte, ob Gil eine Telefonnummer hinterlassen hatte. Sie wollte ihn darum bitten, bevor sie es wieder vergaß, doch er hatte schon angefangen zu sprechen und sie wollte ihn nicht unterbrechen. Weil sie sich auf ihre Frage konzentrierte, hörte sie nicht richtig zu und wartete nur darauf, dass er eine Pause machte, um dann schnell ihre Frage nach der Telefonnummer loszuwerden. Sie begriff nicht, warum er sich wunderte.
    »Ja, klar«, sagte er und nannte die Nummer, doch da merkte sie, dass sie keinen Zettel hatte, und bat ihn zu warten, bis sie Schreibzeug geholt hatte. Dann sagte er alle Zahlen auf einmal, sodass sie nicht mitkam und die letzten Zahlen schon wieder vergessen hatte. Dreimal musste sie die Nummer ausstreichen und von vorn anfangen, bis er ihr die Zahlen einzeln nannte. Danach las sie ihm die Nummer vor und merkte, dass auch er froh war, dass die Zahlen nun stimmten.
    Zufrieden betrachtete sie den Zettel und nahm sich vor, die Nummer später in ihr Telefonheft zu übertragen, deshalb legte sie ihn nicht in ihre normale Zettelschublade. Menachem hatte all diese Eselsbrücken nicht nötig gehabt, er wusste immer genau, wohin er alles gelegt hatte, aber sie war dazu nicht imstande. Oft konnte sie sich Minuten später schon nicht mehr erinnern, wo sie etwas hingelegt hatte. Es war ihr nicht aufgefallen, wann dieser Prozess begonnen hatte, denn solange Menachem da war, gab es dieses Problem nicht. Er konnte ihr immer sagen, wo sie die Sachen hingelegt hatte. Aber nach seinem Tod musste sie ständig nach etwas suchen. Deshalb hatte sie sich ein System überlegt, zu dem auch die Zettelschublade gehörte.
    »Großmutter, kann ich dich etwas fragen?«
    »Ja, ja, selbstverständlich«, antwortete sie. Sie fragte sich, ob sie zu lange gewartet hatte, bis sie ihm antwortete, aber er ließ ihr keine Zeit, darüber

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