Schalom
er unterbrach sie.
»Schon gut, Mutter«, sagte Avri. »Alles ist in Ordnung.« Dann wechselte er das Thema und fragte sie noch einmal, ob sie etwas von Gil wisse.
Der Junge habe ihr nur gesagt, dass er plane, mit einem deutschen Freund einen Ausflug zu machen, sagte sie und versäumte nicht, ihm zu erzählen, dass Gil versucht hatte, den Freund mit zu ihr zu bringen. Dann fiel ihr ein, dass es gar nicht Gils Idee gewesen war, sie selbst hatte es vorgeschlagen, bis sie auf die Idee gekommen war, der Freund könne ein Deutscher sein. Gil hatte ihr von dem Ausflug erzählt, um zu begründen, dass er diese Woche nicht zu ihr kommen könne. Das war doch wirklich lieb von ihm, dass er sich schon nach wenigen Wochen im Land verpflichtet fühlte, sie anzurufen, wenn er nicht kommen konnte. Daran war sie nicht gewöhnt. Ihre anderen Enkelkinder entschuldigten sich nicht, wenn sie nicht kommen konnten.
Noch bevor sie diesen Satz beendet hatte, tat es ihr schon leid, das gesagt zu haben, auch das konnte Avri verletzen, denn diese Enkelkinder waren seine Kinder. Avri könnte noch denken, dass sie Gil vorzog. Und die Wahrheit war nicht, dass sie ihn vorzog, sondern dass er sie vorzog. Nun ja, vorziehen war vielleicht nicht das richtige Wort, aber es war eine Tatsache, dass er sie in der kurzen Zeit, die er in Israel war, häufiger besucht hatte als all ihre Enkelkinder zusammen in den letzten Jahren. Sie hatte Gil als Kind nicht gekannt, sodass diese Verbundenheit zwischen ihnen in der Tat etwas ganz anderes war. So etwas hatte sie mit keinem ihrer Enkelkinder erlebt. Das würde sie Avri nicht sagen, aber Avri war nicht unempfindlich, er spürte es bestimmt von allein.
16
Die Radionachricht von dem verunglückten Bus im Norden und von dem noch nicht identifizierten Toten, der offenbar von niemandem vermisst wurde, zog auch die Aufmerksamkeit Professors Sads auf sich und er hörte gespannt zu.
Dieses Ereignis hätte gut in den Kurs gepasst, den er seinerzeit über russische Literatur im 19 . Jahrhundert gehalten hatte. Turgenjew, Lermontov oder Dostojewski hätten daraus eine wunderbare Erzählung über überflüssige Menschen gemacht. Niemand suchte nach ihm und niemand gab eine Vermisstenanzeige bei der Polizei auf. Ganz einfach überflüssig! Bei der Polizei hatten sie schon verschiedene Theorien: Es konnte ein Obdachloser sein, ein Fremdarbeiter, ein Tourist oder jemand, der einsam und kinderlos gelebt hatte.
Professor Sad erschrak, als der Sprecher zu einer neuen Nachricht überging, er schaltete das Radio ab und erhob sich von seinem Sessel. Die Beschreibung »ein kinderloser Mann« konnte auch auf ihn passen. Wer würde ihn vermissen, wenn er, Gott behüte, Opfer eines solchen Unfalls würde? Kein Mensch hätte ihn bei der Polizei als vermisst gemeldet. Vielleicht hätte Frau Silber gemerkt, dass er von der Bildfläche verschwunden war, sie hätte sich vielleicht sogar gewundert, aber hätte sie die Polizei angerufen? Auf diese Idee wäre sie bestimmt nicht gekommen. Und überhaupt, er könnte auch ohne Unfall tot in diesem Haus liegen, aus vielen Gründen, und kein Mensch würde es merken, bis er beginnen würde zu stinken. Früher hätten die Studenten seine Abwesenheit gemeldet, wenn er nicht zum Unterricht gekommen wäre, aber seit der Pensionierung wurde er von niemandem erwartet, und kein Mensch würde merken, ob er an der Universität war oder nicht. Den Bibliothekarinnen, die er ab und zu in Anspruch nahm, würde er mit Sicherheit nicht fehlen, und wenn sie seine Abwesenheit überhaupt registrierten, würden sie sich höchstens freuen, dass sie seine Belästigungen los waren.
Da er gerade die Bibliothek im Kopf hatte, schaute er zur Uhr. Wenn er jetzt losging, hätte die Bibliothek bereits geöffnet, wenn er dort ankam. Er nahm seine Tasche, steckte die Karten, die auf dem Tisch lagen, in den Umschlag, steckte den Umschlag in seine Tasche, die Tasche klemmte er unter den Arm und ging zur Tür. Als er die Treppe hinunterstieg, hörte er, wie unten bei Frau Silber der Schlüssel im Schloss gedreht wurde, und fragte sich, ob sie soeben zurückgekommen war oder weggehen wollte. Aber ein Blick auf die Uhr belehrte ihn. Um diese Zeit kamen nur Nachtarbeiter nach Hause. Als er den Treppenabsatz erreicht hatte, blieb er kurz stehen, überlegte, ob er es auf eine Begegnung ankommen lassen sollte oder lieber warten, bis sie das Haus verlassen hatte. Doch bevor er sich entschlossen hatte, rebellierten seine Beine und
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