Schalom
setzten den Weg von allein fort. Da hörte er auch schon Frau Silbers Stimme, sie stand in der Tür zu ihrer Wohnung.
»Guten Morgen, Professor Salzbad.«
Wieder nannte sie ihn mit seinem alten Namen. Und was war an diesem Morgen so gut? Wieso strahlte sie so? Sie stand in der Tür ihrer Wohnung, gepflegt und zurechtgemacht wie immer, die Einkaufstasche in der Hand.
»Ich bin nicht sicher, dass dieser Morgen so gut ist«, sagte er.
»Und warum sollte er nicht gut sein?«
Er mochte diese hohlen Gespräche im Treppenhaus nicht, vor allem nicht mit dieser Frau, denn egal, was er sagte, es endete immer damit, dass er verlegen war und ihm die Worte fehlten. Als er den Treppenabsatz vor ihrer Wohnungstür erreichte, blieb er neben ihr stehen und erzählte ihr, gegen seinen Willen, von den Gedanken, die ihm gerade durch den Kopf gegangen waren, und obwohl er sich darüber ärgerte, dass er nicht den Mund gehalten hatte, fügte er noch hinzu, es sei ihm gerade in den Sinn gekommen, dass sie, falls er in seiner Wohnung stürbe, die Einzige wäre, die seine Abwesenheit bemerken würde. Es entging ihm nicht, dass ein säuerlicher Ausdruck auf ihrem Gesicht erschien, sie hatte keine Lust, dieses Thema zu vertiefen.
»Wenn Sie Angst vor so etwas haben, warum besorgen Sie sich nicht einen Hausnotruf?«
Er entschuldigte sich, sagte, er habe sie nicht in seine privaten Gedanken hineinziehen wollen. Die Nachrichten seien schuld, dass er überhaupt auf diese Idee gekommen war. Er fragte, ob sie heute Morgen die Nachrichten gehört habe. Das hatte sie nicht, doch von dem Busunglück in Galiläa hatte sie gehört. Wer hatte nicht davon gehört? Die Nachrichtensendungen waren voll davon.
»Und was hat der Bus mit Ihrer heutigen Laune zu tun?«, fragte sie. »Das Unglück ist doch schon vor einigen Tagen passiert.«
Sie standen auf dem Treppenabsatz, er hatte seine Aktentasche unter dem Arm, sie hielt ihre Einkaufstasche in der Hand, und obwohl er es lächerlich fand, hier zu dieser morgendlichen Stunde zu stehen und über die noch nicht identifizierte Leiche zu sprechen, konnte er es nicht lassen und sagte, er habe, als in den Nachrichten von einem kinderlosen Mann die Rede war, gedacht, dass man über ihn die gleichen Worte gesagt haben könnte.
Plötzlich fiel ihr die Einkaufstasche aus der Hand und sie schlug die Hände vor den Mund. Er erschrak, als er die Angst auf ihrem Gesicht sah.
»Oh weh!«, schrie sie. »Deshalb also haben sie ihn alle gesucht!«
Sie starrte mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin.
»Wer hat wen gesucht?«, fragte er. Aber sie gab ihm keine Antwort.
Noch lange starrte sie in das stille Treppenhaus, dann drehte sie sich um, als würde er gar nicht da stehen, hob die Einkaufstasche vom Boden auf, holte den Schlüssel aus ihrem Portemonnaie und steckte ihn in die Tür.
Er trat näher, versuchte noch einmal zu fragen, was los sei, aber sie murmelte nur: »Großer Gott, das darf nicht wahr sein, das darf nicht passiert sein!« Ihm war klar, dass sie nicht zu ihm sprach. Eine Sekunde lang schaute sie ihn erschrocken an, dann machte sie die Tür hinter sich zu, ohne etwas gesagt zu haben. Er blieb allein im Treppenhaus vor ihrer verschlossenen Wohnungstür stehen.
17
Sie hörte, wie die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, und ging ein paar Schritte, bis sie merkte, dass sie die Einkaufstasche noch in der Hand hatte. Sie machte sich aber nicht die Mühe, sie abzustellen. Ihre Beine bewegten sich wie von selbst und ihr Kopf war ganz leer. Im Wohnzimmer ließ sie sich in den Sessel fallen.
»Lieber Gott«, murmelte sie, »das darf nicht sein! Alles, nur das nicht!«
Im Zimmer war es ganz ruhig. Nur die Gardine bewegte sich leicht in der Brise, die durch die Fensterläden kam, dann hing sie wieder reglos herunter.
Wo war Menachem jetzt?
»Wo bist du jetzt, Menachemke?«, sagte sie laut.
Nur das Echo ihrer Stimme hallte wider. Menachem hatte Gil nicht gekannt, vielleicht war es ihr nur so vorgekommen, als habe Menachem sie ermuntert, ihn zu akzeptieren? Sie wusste eigentlich nicht, was er darüber dachte. Damals hatte er ausdrücklich gesagt, dass kein Deutscher je dieses Haus betreten würde, aber damals hatte er Gil nicht gesehen, nicht sein eigenes Lächeln auf dem Gesicht des Jungen, nicht die Stimme gehört, die seine eigene hätte sein können. Er sagte zu Jaki, dass auch seine Kinder Deutsche sein würden, wenn die da ihre Mutter würde, und dass alles, was er über Deutsche sagte, auch für
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