Scham und Schamlosigkeit: Die wahre Geschichte der Marianne Dashwood (German Edition)
den schwermütigen Nebel zu dringen, in den ich mich hüllte wie in einen dicken Mantel, aber außer, dass Willoughby nach London gereist war, konnte sie nichts aus mir herausbringen.
“Marianne”, sagte sie eines Abends zu mir, “ich will dir bestimmt keine schlimmeren Schmerzen zufügen, als die, die du bereits erleidest, aber ich muss etwas wissen. Hat Mr Willoughby dir ein Versprechen gegeben? Seid ihr zu einer Übereinkunft gekommen?”
“Ein Versprechen?” Ich sah sie fragend an und dann verstand ich. Sie redete von einem Eheversprechen. Was brauchte es ein Versprechen, wenn man sich so zugetan ist, wie Willoughby und ich es waren? Wir wussten, dass wir füreinander bestimmt waren. Auch ohne es auszusprechen. Ich nickte.
Elinor blickte mich zweifelnd an. “So bist du mit Mr Willoughby verlobt?”
Ich antwortete nicht und nickte nur abermals. Elinor schien mit meiner Reaktion nicht zufrieden, doch Mutter klatschte freudig in die Hände. “So bist du nur betrübt, weil ihr getrennt seid. Mein liebes Kind, ach, mir ist ein Stein vom Herzen genommen. Du wirst sehen, die Zeit bis zu eurem Wiedersehen wird geradezu verfliegen. Und stell dir vor, Mrs Jennings hat Elinor und dich eingeladen, sie nach London zu begleiten!”
London! Mein Herz machte einen solchen Hüpfer, dass es mir fast aus der Brust sprang. “Das ist ja wunderbar!”, rief ich aus. Der Trübsinn fiel von mir ab, als wäre er niemals vorhanden gewesen. London, was für eine Fügung des Schicksals. Die liebe, gute Mrs Jennings!
Ich fing sofort an zu packen und konnte es kaum abwarten, bis wir endlich reisen konnten. Willoughby würde mir das Missverständnis erklären, denn ich war mir nun vollkommen sicher, dass es sich um ein Missverständnis handeln musste, und alles würde gut werden.
18
Mrs Jennings‘ Haus in London bot alle erdenklichen Bequemlichkeiten, ihre Gastfreundschaft war voller Herzlichkeit, beinahe überschwänglich. Sie führte uns in die Gesellschaft ein und wir bekamen fast täglich Einladungen zum Tee, oder Mrs Jennings zeigte uns die Stadt. Doch ich hatte keinen Sinn für die Vergnügungen Londons, für die zahlreichen Geschäfte, in denen die neueste Mode angeboten wurde, die Kaffeehäuser, die Einladungen zum Tee. Ich fieberte einer Nachricht von Willoughby entgegen, in der er mich bat, ihn zu treffen. Denn dass auch ich nun in London weilte, musste er sicherlich erfahren haben. Aber Willoughby schwieg, kein Brief, kein Besuch, kein Anzeichen dafür, dass er sich überhaupt in der Stadt aufhielt.
Meine anfängliche Begeisterung wandelte sich in stille Melancholie. Ich begleitete Elinor und Mrs Jennings natürlich zu allen Einladungen, aber wann es mir möglich war, zog ich mich in mein Zimmer zurück, grübelte, sah aus dem Fenster und hoffte, Willoughbys Gestalt in der Menschenmenge auszumachen.
Erst als wir zu einem Ball geladen waren, an dem ein Großteil der Londoner Gesellschaft teilnehmen würde, besserte sich meine Stimmung. Wenn Willoughby die Stadt noch nicht verlassen hatte, so würde er ebenfalls dort sein.
Impulsiv umarmte ich meine Schwester, die ich in den letzten Tagen sträflich vernachlässigt hatte. Erst jetzt fiel mir auf, wie blass und kränklich sie aussah, doch sie lächelte, sichtlich erleichtert, über meinen Stimmungswechsel.
“Ich bin glücklich”, sagte sie, “dass du endlich wieder lachst.”
“Aber was ist mit dir? Du wirkst betrübt.”
Elinor wandte sich ab und wischte sich verstohlen über die Augen. “Es ist nichts”, sagte sie.
“Oh doch”, entgegnete ich. “Ich sehe doch, dass du Kummer hast.” Ich fasste ihre Hände und zog Elinor mit mir auf das kleine Sofa in ihrem Zimmer. “Erzähle mir, was dich bedrückt.”
Sie atmete tief ein und seufzte. “Mr Ferras”, begann sie, schüttelte dann aber den Kopf. “Ich kann es dir nicht erzählen, Marianne, ich habe versprochen Stillschweigen zu bewahren, und ich bin an das Versprechen gebunden, auch wenn es mir das Herz so schwer werden lässt wie einen Stein.”
“Mr Ferras? Der blasse Mann, mit dem du auf Oberst Brandons Ball getanzt hast? Was ist mit ihm?” Hatte meine Schwester doch größere Gefühle für diesen Mann entwickelt, als ich geahnt hatte? Ich war so sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, dass mir das entgangen sein musste. Was war ich nur für eine abscheuliche Schwester! “So erzähl doch”, drängte ich sie. “Hast du ihn wiedergesehen?”
“Ja”, antwortete sie leise und ich
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