Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
vergleichen können.
Aslan hatte die Erscheinung gesehen. Er stand etwas abseits im Schatten einer Mauer und hatte beobachten können, wie sich in Sekundenbruchteilen ein diffuser, scheinbar gläserner Ball aus der Mitte des Schamanen gelöst hatte, der dann auf eine Felsnase getroffen war und den Stein regelrecht hatte zerbersten lassen.
Lobow schaute als Erster auf. Seine Soldaten waren sogleich pflichtschuldig an seiner Seite. Man konnte ihnen ansehen, dass sie eingeschüchtert waren, als sie mit ihm zusammen zu jener Stelle schritten, die von der geheimnisvollen Energie des Schamanen getroffen worden war. Maganhir war unterdessen in die Knie gegangen. Er machte einen erschöpften Eindruck. Lobow kniete ebenfalls nieder, aber nicht |328| aus Erschöpfung, sondern aus purer Begeisterung. Beinahe zärtlich strich er über den abgesprengten Felsbrocken.
»Lasst den Tungusen frei!«, verkündete er knapp. »Er soll nach Hause in sein Dorf gehen und seinem Alten sagen, dass wir gerne auf ihn verzichten.«
Es war Leonard, der den jungen Tungusen mit Lobows Einverständnis aus dem stinkenden Loch befreite. Halb erfroren und schmutzig wankte Tschirin in Decken gehüllt zur einzigen Waschkaue des Lagers, in der ein paar Frauen auf Anweisung Kissankas heißes Wasser bereitet hatten. Der Blick des Tungusen war leer, als Leonard ihn in einem großen Holzbottich vor einem Kanonenofen zu waschen begann.
»Mein Vater wird mich und meine Familie verbannen«, sagte Tschirin so leise, dass Leonard ihn kaum verstand. Er seifte die verklebten Haare des Tungusen ein und kippte aus einer Blechschale warmes Wasser darüber.
»Warum? Du kannst doch nichts dafür, dass man dich hier eingesperrt hat.«
»Das ist es nicht«, murmelte Tschirin. »Ich war es, der die geheimen Kräfte meines Vaters an die Russen verraten hat, und ich war es auch, der ihnen den Hinweis auf Maganhir gegeben hat.«
Leonard half Tschirin aus dem Holzbottich. Die Frauen waren gegangen und hatten ihn mit dem Tungusen allein gelassen. Wie selbstverständlich trocknete er ihn ab und reichte ihm die inzwischen geflickte Kleidung. Kissanka hatte ihm heiße Milch und eine Graupensuppe hingestellt, die er wortlos und mit zitterndem Löffel verzehrte. Sie warteten noch eine Weile, bis die Haare des Tungusen getrocknet waren. Danach stieg er in seine Fellstiefel und den dicken Mantel.
Zum Abschied umarmte er Leonard fest.
»Danke, Bruder«, flüsterte Tschirin. »Was immer kommen mag – ich stehe in deiner Schuld.«
Leonard schüttelte verlegen den Kopf. »Nein, Tschirin, was meine Kameraden und ich hier tun, ist nicht recht, und allein dein Vater weiß darum. Aber manchmal lässt einem das Schicksal keine Wahl.«
»Ich weiß.« Tschirin nickte, bevor er sich zu seinem Schlitten und dem zottigen Pferdchen begab und ohne einen Gruß durch das eiserne Lagertor davonfuhr.
|329| Die Arbeiten mit dem Schamanen gingen indessen gut voran.
»Wenn es so weitergeht, zerschießt er mir sämtliche Messgeräte«, fluchte Aslan am Abend, als er mit Weinberg, Pjotr und Leonard in ihrer Baracke zusammenkam. »Die Kraft seiner Einschläge ist bereits jetzt stärker als bei einem gewöhnlichen Blitz.«
»Hast du eine physikalische Erklärung dafür, wie er es macht?« Pjotr saß in seiner langen Unterwäsche auf seinem Bett und trank einen Tee, den Weinberg in guter Tradition für sie alle bereitet hatte. »Wie bringt er es fertig, eine solche massive Energie zu erzeugen? Er ist nur ein Mensch.«
Aslan schüttelte nachdenklich den Kopf. »Keine Ahnung, Pjotr. Primanov hat ihn untersucht. Der Doktor kam zu der gleichen Auffassung wie du. Ich weiß nur soviel, dass seine Blitze keine wirklichen Blitze sind und dass ihre Kraft sich von Versuch zu Versuch steigert. Es erscheint mir wie reine Energie, die er aus seiner Umgebung zapft und mittels Geist und Körper zu einem unsichtbaren Geschoss transformiert. Wenn es so weitergeht, werde ich in der kommenden Woche mit seiner Hilfe meinen ersten kleinen Sprengsatz zünden können.«
Weinberg entfachte eine Petroleumlampe und gesellte sich zu seinen jungen Kollegen.
»Alles ist wissenschaftlich erklärbar«, brummte er vor sich hin, »irgendwann. Und bis es soweit ist, nennt man es Hokuspokus, weil die Wissenschaftler es nicht ertragen können, dass es Phänomene gibt, die nicht zu erklären sind. In mancherlei Hinsicht sind uns die Schamanen voraus, weil sie keine höhere Mathematik benötigen, um zu wissen, dass es Kräfte
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