Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
Seil tief in sein Fleisch schnitt. Die Fußsohlen fest an der Wand, das Seil, an dem Theisens Körper hing, um Brust und Taille geknotet, stemmte Leonid sich Schritt für Schritt empor.
Mit jeder Bewegung schnitt das Führungsseil tiefer und tiefer in den Rost hinein. Noch paar Zentimeter, und der Holm, an dem das Abseilgerät befestigt war, würde brechen.
Mit einer Hand hatte Leonid schon den Einstieg erreicht, als ein knarzendes Geräusch seine ganze Aufmerksamkeit einforderte. Bevor er ein Bein über den Türpfosten hinausschwingen konnte, verbog sich die Halterung endgültig und riss entzwei. Keuchend krallte er sich an der vergleichsweise winzigen Erhebung des Türrahmens fest, während Viktoria an seinen Kleidern zog.
»Das Seil«, stieß er hervor.
Viktoria dachte nicht lange nach und legte die Lampe auf den Boden. Dann griff sie an Leonid vorbei und erfasste die lose nach unten baumelnde Halterung. In Panik brachte sie das Ende in Sicherheit und hielt Ausschau nach etwas, an dem sie den Haken fixieren konnte. |324| Leonid drohte trotz aller Anstrengungen nach unten hin abzurutschen. Theisen wog gut und gerne neunzig Kilo.
»Du musst dich an
mir
festhalten«, stieß Viktoria atemlos hervor, während sie auf die Knie ging und ihm ihre Arme entgegenstreckte. »Ich kann nichts finden, woran ich das Seil befestigen könnte.«
Für einen Moment schloss Leonid gequält die Augen. In einer solchen Situation konnten ihm all seine Fähigkeiten nicht helfen. Viktoria würde unweigerlich mit in den Abgrund gerissen, wenn er auch nur den Versuch unternahm, sich an ihr hochzuziehen.
Plötzlich wurde es hell, obwohl Viktoria die Lampe beiseitegelegt hatte.
»Geiler Arsch«, bemerkte eine schneidende Stimme. »Eine Einladung zum Vögeln.«
»Zieh ihr die Hose runter«, grölte ein anderer.
»Das ist doch die deutsche Hure aus unserem Camp?«
»Gurkenkopf! Hast du’s auch schon bemerkt?«
»Können wir helfen? Pisdjenka?« Grölendes Gelächter hallte von den Höhlenwänden wider.
Viktoria sah sich ungläubig um und beleuchtete die Gesichter von vier Männern, die allesamt uniformiert und bewaffnet waren. Bei näherer Betrachtung erkannte sie die Kerle: Es waren Lebenovs Leute.
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25
Januar 1908, Sibirien – Maganhir
Noch in der Nacht schlich Leonard zum Gefangenenblock I. Dort befand sich die Arrestzelle, in die man Tschirin eingesperrt hatte. Die Wachen ließen sich mit zwei Päckchen Zigaretten bestechen, von denen Aslan bei seinem letzten Außeneinsatz gleich eine ganze Kiste mitgebracht hatte. Mit zitternden Fingern hob Leonard das Licht an das Guckloch heran und schob die eiserne Plakette zur Seite.
»Tschirin«, zischte er leise. »Ich bin es, Leonard. Wie geht’s dir?«
Der Gestank nach Kot und Urin nahm ihm den Atem.
»Kannst du die Wachen dazu bringen, dass sie mir wenigstens etwas |325| zu trinken geben?« Die Stimme klang erstickt. »Ich muss hier raus, sonst werde ich noch meinen Verstand verlieren.«
»Ich kann dich nicht herausholen, aber dein Vater könnte es, wenn er uns helfen würde.«
»Wenn es so ist, werde ich meine Familie niemals wiedersehen.« Die Stimme des jungen Tungusen verriet, in welcher aussichtslosen Lage er sich sah. »Mein Vater wird den Russen niemals helfen. Er wird sich höchstens rächen, und dann ist alles, woran euer Herz hängt, verloren.«
»Gibt es denn nichts, womit wir ihn umstimmen könnten?«
»Vielleicht gibt es etwas«, erwiderte Tschirin mit brüchiger Stimme.
»Ich sollte es dir nicht sagen, aber ich habe eine Frau und eine kleine Tochter. Ich will nicht sterben. Ich möchte sehen, wie sie aufwächst. Kannst du das verstehen?«
Leonard räusperte sich, um antworten zu können. »Glaub mir, niemand weiß besser als ich, wovon du sprichst. Also sag schon, ich werde es persönlich an Kommandeur Lobow weitergeben und mich dafür einsetzen, dass er dich danach auf freien Fuß setzt.«
»Sagt meinem Vater, dass ihr an seiner Stelle den großen Maganhir um Hilfe bitten werdet, wenn er selbst nicht bereit ist, euch zu helfen.«
»Maganhir? Wer, zum Teufel, ist Maganhir?«
»Er gehört zum Stamm der Yanagir. Seine Sippe lebt an der oberen Taimura. Er besitzt ähnliche Fähigkeiten wie mein Vater und ist der einzige Schamane weit und breit, der sich mit ihm messen könnte. Die beiden stehen in ständiger Fehde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es meinem Vater gleichgültig ist, wenn euer Kommandant Maganhir den Vorzug gibt.«
Maganhir
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